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„Zu dir nachhause?" Sie schaute Nick an und bemerkte, wie er die Augen aufriss und er die Kontrolle über seinen Gesichtsausdruck verlor, ehe er hastig mit dem Kopf schüttelte. Sofort spürte sie deutlich ein Zucken in ihren Mundwinkeln, das offenbar auch er wahrnahm. Denn er fing sich und stöhnte.

„Jetzt hast du mich echt kalt erwischt. Ich dachte, ich hätte mich falsch ausgedrückt. Ich meine, du bist eine attraktive Frau, aber es ist nicht mein Ding, so direkt zu werden. Und ... ähm ... ist vielleicht altmodisch, doch ich lerne die Frauen lieber vorher etwas besser kennen, die ich mit nach Hause nehme." Gretel nickte und zwinkerte ihm aus einem Impuls heraus zu, ehe sie ein Stich durchfuhr und sie auf ihre beringte Hand schaute.

Augenblicklich zog sich ihre Brust noch mehr zu und als sie den Blick wieder hob, registrierte sie, dass auch Nicks Augen auf ihren Fingern ruhten. Sie schluckte trocken, ehe sie sich zusammenriss und sich im Stillen nochmal Mut zusprach. Heute sollte doch ihr Neuanfang sein.

„Er ist tot. Mein Mann. Schon länger. Drei Jahre." Sein Blick flog nun zu ihrem Gesicht zurück und sie zuckte mit den Schultern. Seine Brauen stellten sich schräg und er ließ seine Mundwinkel hängen, während er nickte. Da er wirkte, als wolle er sein Angebot zurückziehen wollen, holte sie hastig tief Luft und sagte: „Ja, ich würde gerne noch was mit dir trinken gehen."

Jetzt lüpfte er seine Brauen komplett und sie schluckte hart. „Wenn du weiterhin möchtest."

Ein Lächeln schlich zurück auf seine Züge und sie musste es automatisch erwidern, als er eine Zustimmung murmelte. Erleichterung flutete sie und brachte ihre Hände zum Zittern. Trotzdem fiel es ihr leicht, ihm zu folgen, als er sie darum bat. Sie stieg neben ihm die Treppe hinunter und schlüpfte aus der Tür, die er ihr aufhielt. „Ich kenne eine nette Bar in der Nähe. Sie machen fantastische Cocktails und die Musik ist nur so laut, dass man sich noch unterhalten kann."

„Klingt gut." Sie warf ihm einen Seitenblick zu und bemerkte, wie seine Augen sich ein bisschen verloren, während er in den Himmel schaute. Sie folgte seinem Blick und ihr Herz machte automatisch einen Hops in ihrer Brust, als sie sah, dass die Wolken sich etwas verzogen hatten und einzelne Sterne tapfer gegen das künstliche Licht in ihrer Umgebung anblinkten.

Ein Seufzen bewog sie dazu, aufs Neue in Nicks Gesicht zu sehen. An seinen Mundwinkeln zupfte erneut ein Lächeln, als er ihren Blick erwiderte. „Wollen wir?"

Sie bejahte und folgte ihm in die Richtung, die er vorgab. Dabei war sie hin- und hergerissen zwischen dem Flattern in ihrem Bauch und ihren zittrigen Händen. War es wirklich richtig, was sie gerade machte? Aber sie spürte, wie die Anspannung mit jedem Schritt wieder abfiel. Liegt das daran, dass wir schweigen und ich nicht mehr die Notwendigkeit habe, zwangsläufig charmant zu sein?

Ein Seufzen drang über ihre Lippen und ihr Blick huschte zu Nick, der ihr ebenfalls einen Seitenblick zuwarf, dann jedoch sein Gesicht wieder ihrem Weg zuwandte. Sie folgte seinem Beispiel und versuchte, sich weiter zu erden. Dazu holte sie tief Luft, konzentrierte sich auf die Frische in der Atmosphäre und gab sich dem sanften Zerren des Windes an ihren Haaren hin. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass Nick erneut leicht lächelte, und wandte ihm ihr Gesicht zu. „Du musst mich für verrückt halten."

Sie registrierte, wie seine Schritte automatisch stockten und er sie irritiert anschaute, ehe er sich wieder fing und den Kopf schüttelte. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen. Ich glaube, du hast deinen Mann sehr geliebt. Ich vermute, dass du verunsichert bist, weil du heute scheinbar das erste Mal ohne ihn oder Freundinnen unterwegs bist."

Jetzt entglitten ihr ihre Gesichtszüge und er zuckte mit den Schultern, als müsse er sich für seine Äußerungen entschuldigen. Doch dann strich er sich durch sein Haar und blieb stehen. „Ich denke, du merkst heute zum ersten Mal seit langem, wie sauber der Nieselregen im November riecht und wie gut der Wind tut, der das Alte mit sich zu nehmen scheint – und das neue bringt. Wie lebendig sich das alles anfühlt."

Nun schluckte sie hart gegen den Kloß in ihrem Hals an, ehe sie kurzangebunden nickte. Da er sie weiterhin ruhig musterte, ließ sie ihren Blick kurz auf die sich aneinander reihenden Gebäude der Altstadt schweifen, ehe sie sich wieder auf sein Gesicht fokussierte. „Woher weißt du das?"

Er zuckte mit den Schultern und nun wich er ihren Augen kurz aus. Sie bemerkte, wie seine Gestalt etwas einsackte und seine Mundwinkel einen Augenblick gen Süden zeigten, ehe er sich wieder fing und den Blick aufs Neue hob. „Das ist leicht. Ich weiß, wie du dich fühlst. Meine Frau ist vor fünf Jahren verstorben."

Überrascht riss sie die Augen auf und starrte ihn an. Nick erwiderte ihren Blick, ehe er sich für einen Sekundenbruchteil auf die Unterlippe biss und danach wieder ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. „Wollen wir hinein? Da ist die Bar."

Ihr Kopf drehte sich in die Richtung, die er andeutete und sie runzelte die Stirn, weil ihr erst jetzt die bunte Beleuchtung des Schildes und die Farben auffielen, die aus dem großen Schaufenster drangen. Sie nickte schlicht und trat einen Schritt zurück, als er an ihr vorbeiging und die Tür öffnete. Sofort schlüpfte sie durch die Öffnung und sah sich automatisch in dem Raum um, der fast bis zum letzten Platz besetzt war. Doch ein Pärchen kam ihnen gerade entgegen und machten so einen Tisch frei. Ihr Gesicht drehte sich zu Nick, als er eine Hand auf die Mitte ihres Rückens legte und sie fragend anschaute. Nach ihrer Zustimmung schob er sie sanft durch das Gedränge und mit einem Seufzen ließ sie sich ihm gegenüber auf einem der Barhocker nieder. „Das war Glück."

Sein Lächeln unterstrich seine Worte und da das Silber in seinen Augen wieder herrlich warm wurde, erwiderte sie es schüchtern. In ihr schienen plötzlich zwei Stimmen zu streiten. Die eine erkärte ihr, sie solle sofort das Weite suchen. Die zweite nannte sie eine dumme Pute. „Tut es irgendwann nicht mehr weh?"

Sein Blick wurde schlagartig ernst und Gretel sagte sich, dass sie ein echter Stimmungskiller war. Doch dann zuckte Nick mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber es wird weniger. Mit der Zeit. Oh Mann, ich hasse diese Phrase. Leider stimmt sie."

Sie murmelte eine Zustimmung und wollte gerade noch mehr sagen, als plötzlich ein Angestellter neben ihnen erschien und nach ihren Wünschen fragte. Sie hörte, wie Nick sich schlicht einen Cuba Libre bestellte und orderte für sich einen Moscow Mule. Als sie ihr Gesicht erneut Niklas zuwandte, lächelte er wieder. Lass es gut sein, Gretel. Genieß den Abend. Du bist frei. Hendrik wäre dir nicht böse.

„Was hat dir geholfen, ins Leben zurückzufinden?" Aufs Neue wurde Nick ernst. „Entschuldige. Das soll ja keine Therapiesitzung sein..."

Sie unterbrach sich, als er seine Rechte auf ihre legte und sie drückte. „Schon ok. Ich fühle mich geehrt."

Während sie die kleine Anhöhe hinaufliefen, erinnerte sich Gretel daran, wie gut ihr dieser Abend getan hatte. Nicks Verständnis war eine Wohltat gewesen. Kurzzeitig wurde sie von dem atemberaubenden Ausblick abgelenkt, der sich ihr mit jedem Schritt mehr offenbarte. Der klassizistische Bau, der nach den Bauwerken der Antike nachempfunden worden war, hob sich im goldenen Sonnenschein gegen den hellblauen, wolkenfreien Himmel ab. Mit seinen Terrassen lud er förmlich dazu ein, sich auf eine zu setzen und die Seele baumeln zu lassen. Zu ihrem Erstaunen tummelten sich heute nicht so viele Menschen wie sonst hier. Normalerweise wurde der tempelartige Bau von vielen Touristen und Einheimischen umschwärmt. Doch gerade hatten sie Platz. Und die Freiheit, so viele Fotos wie möglich in dieser traumhaften Atmosphäre aufnehmen zu können. Während sie zusah, wie der Fotograf Anna und ihren Sohn in die richtigen Posen diktierte, drifteten ihre Gedanken zurück zu dem Abend mit Nick.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now