Tag 83

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Ein ferner Ruf, hastige Schritte, ein gedämpfter Knall, ein tiefes Donnern und Rumpeln. Feiner Regen aus Staub und Stein. Das Klirren einer Spitzhacke auf Gestein. Das quietschen einer Lore auf krummen Schienen. Das Stöhnen und Seufzen einer Gruppe Jungen. Das Schluchzen einer fernen Stimme. Unscheinbares Plätschern.

Robin hockte in einem schmalen Nebengang und lauschte apathisch den Geräuschen der Mine.

Gerade war ein Gang gesprengt worden und kleine und größere Gesteinsbrocken regneten von der Decke. Robin fürchtete sich. Jedes Mal, wenn gesprengt wurde, durchlebte eine Achterbahn an Angstzuständen und verkroch sich in die entlegensten Winkel der Stollen.

Hier unten gab es nichts, was ihn schütze. Keiner der Männer kam jemals in die Mine. Ihnen war ihr Leben zu Schade, um es in den Stollen aufs Spiel zu setzen. Robin fühlte sich jedes Mal mies, wenn ihm bewusst wurde, dass sein Leben für die Menschen nichts wert war.

Dann dachte er an Hamburg und an seine Freunde und Familie. Er fragte sich dann, ob er ihnen etwas bedeutete und ob sie ihn vermissten. Hinterließ sein Verschwinden ein Loch in ihren Herzen oder war er nur ein Familienmitglied gewesen, was nichts zu bedeuten hatte.

Groß war seine Familie noch nie gewesen. Viele waren früh gestorben oder weit weggegangen, wie sein Onkel Niklas, der die Familie im Stich gelassen hatte und nach Russland ausgewandert war. Zusammen mit einer Russin, die seiner Frau, alle Geldquellen verschlossen hatte.

Tante Liza war danach depressiv geworden und hatte schließlich Selbstmord begannen.

Sie hinterließ zwei traurige Kinder. Henry und Klara, Robins einzige Cousins. Sie lebten bei ihren Großeltern, die aber auch schon tot waren.

Nach Robins lebten nur noch seine beiden Cousins, seine Oma Henriette, Onkel Benjamin, Tante Lucy, die Schwester seiner Mutter, Tante Louise und er.

Traurig, dachte er und griff nach seiner Spitzhacke. Er lief zurück zu der Sprengung, vor der er geflüchtet war. Die anderen Jungen schaufelten schon den Schutt in die Lore und schoben die Erste zum Ausgang.

»Sieh an. Wen haben wir denn da? Hasenfuß höchstpersönlich.« rief schlammige Feder spöttisch. Er war einer der Jungen, denen Robin neulich die Stirn geboten hatte. Hier unten waren sie gefährlicher, als unter Tageslicht.

»Aus welchem Loch kommst du denn jetzt gekrochen. Hast du endlich eingesehen, dass es dumm ist, wegzurennen? Wohl kaum. Du rennst ja immer weg. Ist es wenigstens schön, wo du hingehst?« fragte er weiter.

»Wundert mich echt, dass er noch nicht nach draußen geflüchtet ist.« meinte der Junge, den Robin in das Essen geschupst hatte. Robin reagierte nicht und half tote Maus einen besonders großen Brocken in die Lore zu hieven.

Der Junge warf ihm einen geradezu mitleidigen Blick zu und sammelte kleinere Steine in seinem T-Shirt.
Im Licht der wenigen Lampen im Stollen konnte Robin das matte Leuchten des Goldes in einem der Steine sehen.

Er stupste graue Rache an. Dieser drehte sich um und bekam große Augen, als er das Leuchten sein.

»Schaut! Weißer Tiger hat Gold gefunden.« rief er gedämpft. Sofort entstand ein Gewusel um die beiden und die Stimmen wurden lauter.

Ein lautes Rumpeln unterbrach die aufgeregten Stimmen. Alle erstarrten und lauschten. Es rumpelte wieder.

»Was war das?« fragte tote Maus ängstlich. Ein paar Steine fielen plötzlich von der Ecke. Einer traf schlammige Feder am Kopf. Der Junge stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr.

»Alle raus! Sofort raus!« schrie kaltes Herz und rannte Richtung Ausgang. Sofort folgten ihm alle.
Robin starrte immer noch entsetzt auf schlammige Feder und den Stein voller Gold.

Weitere Steine fielen herunter. Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte und der dunkle, frischgesprengte Gang stürzte ein.

Robin riss sich aus seiner Starre los und packte schlammige Feder. Ein gewaltiger Fels fiel von der Decke und erzeugte eine gigantische Staubwolke. Robin hustete und verlor für einen Moment die Orientierung.
Hilfe! dachte er panisch und starrte in die Dunkelheit.

~~~

Begleitet von einem bedrohlichen Grollen und einer großen Staubwolke strömten die Goldjungen aus der Mine.

Schwarzmesser sprang entsetzt von seinem Stuhl auf und stieß seine Teetasse von dem kleinen Tisch.

Hustend und würgend ließen die Jungen sich zu Boden fallen.
Niemand schoss. Die anderen kamen herbei gerannt.

»Was ist passiert?« fragte Feuerfänger scharf. Kaltes Herz fand zuerst seine Stimme wieder. »Der Gang ist eingestürzt. Wir konnten nicht anders. Wir mussten fliehen.« antwortete er und hustete wieder.
Schwarzmesser ließ seinen Blick über sie schweifen und sein Herz kam für einen kurzen Moment zum Stillstand.

»Wo ist weißer Tiger?« fragte er mit brüchiger Stimme. »Er war direkt...« tote Maus unterbrach sich selbst und sah zurück zum Stollen.

»Schlammige Feder ist auch zurückgeblieben.« sagte ein Junge traurig.
Wen kümmert das? dachte Schwarzmesser bekümmert und starrte betrübt in den staubigen Tunnel.

~~~

Der Nebel aus Staub legte sich und Tageslicht kam zum Vorschein. Robin beschleunigte seine stolpernden Schritte und rannte ins Freie.

Hustend und hektisch nach frischer Luft schnappend warf er sich auf den Boden und achtete nicht auf die davon rollende Lore.

Als seine Lunge wieder funktionierte, seufzte er erleichtert. Er hatte es geschafft. Er hatte überlebt und das wichtigste war, er hatte schlammige Feder gerettet.

Er richtete sich auf und stellte fest, dass er von so gut wie allen aus Schwarzmessers Truppe angestarrt wurde.

Peinlich berührt stand er endgültig auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern.

»Er lebt?« fragte Feuerfänger ungläubig und irgendwie enttäuscht. Auf Schwarzmessers Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Sieht wohl so aus.« meinte er grinsend. Gerne hätte er den Jungen nun in die Arme geschlossen, aber das wäre viel.

Robin humpelt auf wackeligen Beinen zu der Lore und zog schlammige Feder heraus. Seine Freunde stießen einen Freudenschrei aus und rannten zu ihnen. Der Junge kam gerade zu sich und blinzelte ungläubig ins Sonnenlicht.

Auch Robin musste schmunzeln. Er mochte den Jungen zwar nicht besonders, aber wollte sich von niemanden den Tod wünschen.

Er griff wieder in die Lore und zog den Stein heraus und ging zu Schwarzmesser. Dieser sah in überrascht an. Mit einer Art Lächeln überreichte er dem Mann den Stein.

»Gold?« fragte er. Robin nickte und die Männer jubelten. Schwarzmesser klopfte ihm lobend auf die Schulter.

»Gut gemacht, Goldjunge.« sagte er stolz »Du bist ein richtiger Held. Weißt du das eigentlich?«
Robin verstand zwar, was Schwarzmesser sagte, reagierte allerdings nicht. Er würde dieses Lob alleine genießen. Der Mann seufzte und drehte sich um.

Robin blieb zurück und wurde zugleich von den anderen Jungen umlagert und bekam Glückwünsche. Er kostete seinen kleinen Sieg aus und schenkte Feuerfänger ein hinterlistiges Lächeln.

Der Narbenmann hatte natürlich seine Tat genau durchschaut und war alles andere als begeistert.

Der weiße TigerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt