Tag 123

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Die Wachen auf dem Wall und im Lager hatten ihre Blicke beinahe überall, aber eben nur beinahe.
Leise, wie eine Maus, schlich Robin durch das Lager Richtung Hütten und der Straße. Dazwischen gab es einen Durchlass in dem Wall. Einen Tunnel aus einer breiten Betonröhre. Davor stand ein Mann mit einem Sturmgewehr. Es war kurz vorm Morgengrauen und die Müdigkeit war der Wache anzusehen.
Robin duckte sich hinter einem Stapel Kisten und beobachtete den Mann einen Augenblick. Er starrte verträumt ins Nichts und achtete nicht auf seine Umgebung.
Fieberhaft dachte Robin nach, wie er ihn ablenken konnte, sodass er durch die Röhre kam. Da ging jemand von der Röhre auf den Mann zu.
Die Wache von der anderen Seite. Er nahm den Mann ein paar Schritte zur Seite und redete leise auf ihn ein.
Das war Robins Chance. Blitzschnell und so leise er konnte flitzte er in die Röhre.
Dort war es dunkel und staubig, aber sie war nicht mehr als acht Meter lang.
»Hast du das gehört?« fragte plötzlich eine Stimme. Robins Herz blieb für einen Moment stehen, doch er rannte weiter und sprang um die Ecke und kauerte sich in die Schatten.
Die dunklen Stimmen der Männer hallten durch den Tunnel.
»Was war da?«
»Keine Ahnung. Ich dachte, ich hab Schritte gehört.«
»Pff. Du spinnst. Hier ist niemand. Komm lass uns was trinken.«
»Was? Wir dürfen unsere Posten nicht verlassen.«
»Wir sind die Einzigen, die wach sind. Also wer soll uns bestrafen?«
Die Stimmen und Schritte entfernten sich und Robin atmete erleichtert aus.
Er war draußen.
Stellte er fest und sah den Akazienhain und die Straße vor sich. Nicht weit entfernt befanden sich die Hütten und am Straßenrand standen die Wagen.
Eine Wache saß im Schatten einer Hütte und rauchte eine Zigarette.
Der Mann hatte Robin nicht bemerkt, obwohl er in seine Richtung sah.
Geduckt in den Schatten schlich Robin am Wall entlang und inspizierte die Umgebung.
Er wollte sich alles ganz genau einprägen und aus nächster Nähe sehen, was geschah und was geschehen konnte.
Die Straße war frei. Kein Licht nirgendwo, außer der Mond und die Sterne am Himmel.
Wenn man es schaffen würde in einen der Wagen zu kommen, dann...dann könnte man..., überlegte Robin, als hallende Schritte im Tunnel ertönten.
Hektisch sprang er hinter eine nahegelegene Hauswand und drückte sich dagegen.
Die Männer kamen zurück. Im Osten färbte sich der Himmel langsam rosa.
Robin spürte Panik in sich aufsteigen.
Sie würden ihn sehen, egal, was er unternahm. Die Wache an der Straße war nun wieder wach und die Männer hatten den Tunnel im Auge.
Ein verrückter und geradezu selbstmörderischer Plan überkam Robin und ließ ihn prompt aus seiner Deckung springen.
Die Männer drehten sich abrupt um.
»Ist das nicht ein Feuerjunge?« fragte der eine. »Heißt der nicht irgendwas mit Tiger?« »Der hat hier nichts zu suchen.«
Er hob seine Waffe. Robin ging mit langsamen Schritten auf sie zu. Die Augen geschlossen.
Die Männer musterten ihn verwundert.
»Wieso hat er die Augen zu?«
Robin war darum bemüht keine Miene zu verziehen.
»Hallo?« Er spürte eine wedelnde Hand vor seinen Augen. Im nächsten Moment packte ihn jemand am Arm.
Auf einen Schlag öffnete er die Augen und schrie erschrocken. Der Mann begann ebenfalls zu schreien und sprang zurück.
Robin warf sich zu Boden und ließ seinen Puls durch hektisches Atmen in die Höhe schießen.
Der Mann von der Straße kam herbei gerannt.
»Was ist passiert?« fragte er alarmiert. »Der Bursche...er ist hier rumgelaufen. Mit geschlossenen Augen. Ich hab ihn angefasst und er hat geschrien und ist hingefallen.«
Der Mann lachte über das verschreckte Gesicht seines Kumpanen, aber Robins panischer Atem ließ ihn wieder ernst werden.
»Was hast du hier draußen zu suchen?« verlangte er zu wissen. Robin reagierte nicht und tat so, als würde er jetzt erst realisieren, wo er war.
Mit verschreckten Augen sah er sich um. Schließlich wandte er sich dem Mann zu. Dieser sah ihn immer noch an.
»Ich glaub er ist schlafgewandelt.« meinte der eine, der noch nichts gesagt hatte. »Sicher?« Er zuckte mit den Schultern. »Er könnte uns auch etwas vorspielen.«
Aus einer der Hütten trat plötzlich Schwarzmesser und joggte zu ihnen hinüber.
»Was ist hier los?« wollte er wissen. »Weißer Tiger schlafwandelt.« erklärte der eine. Schwarzmesser warf Robin einen überraschten Blick zu. Dieser versuchte nur so verwirrt, wie möglich auszusehen.
»Ist das schonmal passiert?« fragte er. Schwerschluckend schüttelte Robin den Kopf. Schwarzmesser seufzte fast erleichtert. »Bringt ihn zurück ins Lager.« befahl er und ging zurück zu seiner Hütte.
Der eine Mann schupste Robin grob auf die Beine und stieß ihn Richtung Tunnel. Er stolperte auf weichen Knien voraus.
Er konnte nicht glauben, dass sein extrem blöder Plan geklappt hatte und niemand Verdacht geschöpft hatte. Er sollte Schauspieler werden.
Ein Stich ging ihm im nächsten Moment durchs Herz, als er für eine Sekunde an die Zukunft gedacht hatte, die womöglich gar nicht existierte.
Traurig ließ er sich auf seinen Schlafplatz fallen. Doch einschlafen konnte er nicht mehr.
Die Sonne stieg über der Landschaft auf und tauchte die Welt in ein dämmriges Licht.
Die ersten regten sich und trauriger Schattens Blick und seiner trafen sich für einen Augenblick. Stumm deutete Robin auf den Tunnel.
Trauriger Schatten musterte ihn eindringlich, wandte sich dann allerdings ab.

Der Vormittag war schnell verstrichen und das Mittagessen lag vor ihnen. Inzwischen hatte sich im gesamten Lager Robins Ausflug herumgesprochen.
»Bist du echt schlafgewandelt?« fragte fallender Tropfen. Robin zuckte unsicher mit den Schultern und tat so, als würde er versuchen sich an die Nacht zu erinnern. »Die Vorstellung allein ist gruselig.« meinte trauriger Schatten scheinheilig »Stellt euch mal vor, ihr wacht nachts auf und da steht jemand neben euch und starrt euch durch tote Augen an.« »Pff. Mich würde es nur gruseln, wenn jemand der eigentlich tot ist, neben mir steht.« sagte blutige Klinge, dessen Verletzung mittlerweile wieder gut verheilt war. »Pass bloß auf, was du sagst, sonst buddelt noch jemand kleiner Funke aus und hängt ihn neben deinen Schlafplatz.« witzelte kaltes Herz. Auch die anderen lachten.
Blutige Klinge sah etwas bedröppelt aus und musterte Robin.
Dieser versuchte ebenfalls fröhlich und nachdenklich zugleich auszusehen.
»Hauptsache es passiert nicht noch mal. Es gab einmal einen Jungen im Lager, der schlafgewandelt ist. Nach dem sechsten Mal wurde er jeden Abend an einen Pfahl gekettet, damit er nicht durchs Lager geisterte oder womöglich abhaute. Allerdings wollte das Schlafwandeln nicht aufhören und er hat sich unbewusst, jede Nacht die Gelenke aufgescheuert, denn er wollte sich losreißen. Am Ende wurde er erschossen.« erzählte blutige Klinge. »Ih.« machte fallender Tropfen. »Ziemlich eklige Geschichte.« stimmte trauriger Schatten zu. Blutige Klinge zuckte nur mit den Schultern. »Ich mochte ihn nicht besonders, aber wenn weißer Tiger, wegen sowas sterben sollte, dann wäre das echt lächerlich.« »Stimmt. Im Prinzip hätte er schon lange das Zeitliche segnen müssen.« »Ich hasse es, wenn jemand bevorzugt und in Schutz genommen wird.« meinte gebrochener Stein. »Kann man nichts für, man sollte nur aufpassen, dass man nicht benachteiligt wird.« sagte kaltes Herz und schaufelte den Rest aus seiner Schüssel.
Robin stand auf und nahm die Schüsseln der anderen. Er brachte sie zum Koch zurück und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
Die anderen Jungen waren beinahe zu naiv, als dass sie bemerkten, was eigentlich vor sich ging.
Er konnte gerade nur hoffen, dass niemand das in den falschen Hals bekam und Robin schaden wollte. Das wäre alles andere als gut.

Der weiße TigerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt