Tag 308

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Weißes Licht umgab ihn und ein Piepen und Brummen dröhnte in seinem Ohr.
Verwirrt öffnete Robin die Augen. Für einen Moment konnte er sich nicht erinnern, was passiert war, dann spürte er ein Kribbeln am Bein und erinnerte sich.
Die Explosion, das Holz, die Steine, der sandige Boden und das Nichts.
Es kam ihm vor, wie vor zwei Minuten, aber es musste viel Zeit vergangen sein.
Seine Umgebung hatte sich verändert. Er lag in einem Krankenhausbett und sah auf ein Krankenhausgebäude durch das Fenster.
Er war müde und erschöpft, aber sein Herz schlug viel zu schnell und die Tatsache, dass er in einem Krankenhaus war, ließ ihn jetzt auf keinen Fall einschlafen.
Vorsichtig versuchte er sich weiter aufzusetzen, dabei entfuhr ihm ein leiser Stöhner. Sein ganzer Körper war steif und verkrampft.
Jemand zog erschrocken und überrascht zugleich die Luft ein.
Robins Kopf fuhr herum. Da saß ein Mädchen nicht weit von seinem Bett entfernt mit einem Buch auf dem Schoß.
»Du bist wach!« stellte sie fest. »Ja.« krächzte Robin. Der Hals tat ihm immer noch weh und eine Art Film lag auf seiner Stimme. Sie hörte sich fremd und unnatürlich an.
»Wer bist du?« fragten sie gleichzeitig. Das Mädchen war schneller.
»Ich heiße Laura.«
»Robin.«
»Das ist toll.«
»Wie?«
»Dass du wach bist.«
»Welcher Tag...ist heute?«
»Mittwoch.«
»Datum?«
»22...5.«
»Mai? Verdammt!«
»Was ist los?«
»Ach nichts. Ich...weiß nur so gar nicht was abgeht.« meinte Robin und raufte sich die Haare.
»Das kann ich dir erklären.« bot Laura an. »Bitte.«
»Also. Nachdem du uns fast erschossen hättest, sind wir nach draußen gerannt, aber da waren überall Männer mit Schusswaffen, also haben wir uns in einem Bungalow versteckt, der offenbar schon gefilzt wurde.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich für eine Sekunde. Vermutlich hatten in dem Bungalow Leichen gelegen.
»Na ja. Dann haben wir gewartet. Nur kurze Zeit, da flog das Haupthaus in die Luft und wenig später verschwanden die Männer wieder. Sie haben alle getöten und die die sie nicht getöteten haben, waren die Jungen. Viele, glaube ich. Du hast uns das Leben gerettet, Robin. Ist dir das eigentlich klar?
Auf jeden Fall ist uns das bewusst geworden, als die Rettungskräfte kamen. Sie haben alle Leichen untersucht, aber es gab keine Lebenszeichen, bis auf den Jungen unter der Tür. Das warst du. Ich hab dich sofort erkannt und wir haben geschworen dir das Leben zu retten. Also sind die Sanitäter ganz schnell los ins nächste Krankenhaus. Die ersten Stunden und sogar Tage waren ein Kampf. Du standest immer auf der Schwelle zum Tod, doch wundersamerweise bist du nie hinübergeglitten. Irgendwann war das Bangen dann vorbei und du warst stabil, dann haben sie dich ins Koma gelegt, damit dein Körper heilen kann und sich ausruhen.«
»Und jetzt? Bin ich einfach so aufgewacht?« fragte Robin. »Sie haben damit gerechnet, seid gestern bist du quasi wach oder schläfst nur.«
»Bin ich immer noch in diesem Krankenhaus?«
»Nein. Du bist in der ENDO-Klinik in Hamburg. Wir haben dich vor fünf Tagen rüber geflogen, da die Ärzte in Afrika nach einiger Zeit mittellos waren.«
Hamburg.
Robin seufzte. Gerade wenn man glaubte, sein Leben würde sich zum Guten wenden, landete man an dem Ort, den man nie wieder hatte sehen wollen.
»Und? Wie geht es mir jetzt?« »Ja wie denn?«
»Das könnte vielleicht ein Arzt wissen.« meinte Robin. Sie sah ihn erschrocken an.
»Oh. Ja. Ich sollte doch einen rufen.«
Sie drückte auf einem Knopf neben seinem Bett.
Keine zwei Minuten später kam ein Arzt hineingerannt und sah sich hektisch um.
»Oh.«
Konnte er dann nur sagen und setzte sofort ein warmes Lächeln auf. Sehr professionell.
»Wie schön. Du bist wach. Wie geht es dir?«
»Gut...würd ich meinen.«
»Keine Schmerzen? Beschwerden?«
»Halsschmerzen, irgendwie und meine Füße kribbeln.«
Der Arzt verzog das Gesicht und Laura schaute betreten zu Boden.
»Was ist los?«
Wortlos kam der Arzt näher und zog die Decke von Robins Beinen.
Was er da sah, konnte er gar nicht fassen. Für einen Moment wollte er seinen Augen nicht trauen, doch das schien Realität zu sein.
»Wo sind meine Füße?« fragte er entsetzt. Unterhalb seiner Knöchel schien nichts mehr zu existieren und die Knöchel waren in einen Verband gewickelt.
»Es tut mir schrecklich leid. Aber die Ärzte in Afrika konnten sie nicht retten. Sie hatten einfach zu wenig Mittel und es wurde zu spät gehandelt.« erklärte der Arzt.
Das beruhigte Robin ganz und gar nicht. Er hatte keine Füße mehr. Konnte sein vermeidlich neues Leben noch schlimmer werden?
»Allmählich...falle ich echt vom Glauben ab.« sagte er. »Ist das ein Vorwurf?« fragte der Arzt. »Ja. An den Herrn. Ich meine, das kann doch nicht sein Ernst sein. Da kämpfe ich mich schon durch halb Afrika und entkomme den Tod mehrmals nur um Haaresbreite und dann nimmt er mir meine Füße? Füße?! Sein Ernst? Nicht eine Hand oder vielleicht auch den Arm. Ich hätte mich auch von einem Auge verabschiedet, aber doch nicht von den Füßen!«
Mittlerweile war Robin so aufgebracht, dass eines der Geräte im Raum panisch zu piepsen anfing.
»Ja. Das ist alles sehr unglücklich.« meinte der Arzt wissend. Das beruhigte Robin keineswegs.
Beinahe wütend ließ er sich auf das Bett fallen.
Keine Füße. In seinen Ohren klang das so lächerlich, wie ein Scherz.
Wenn ihn irgendjemand in Zukunft fragen sollte, warum er im Rollstuhl saß, müsste er sagen. Weil ich keine Füße mehr habe.
Die ganze Welt würde über ihn lachen. Das war einfach nur grausam.
»Du brauchst dir keine Sorgen machen.« sagte Laura. »Sorgen? Worüber? Mein Leben ist doch jetzt perfekt.« entgegnete er gereizt.
»Im Moment hast du gar kein Leben. Das liegt daran, dass wir alle gar nicht wissen, wer du überhaupt bist.« Der Arzt setzte sich auf einen weiteren Stuhl neben seinem Bett.
»Also nochmal von vorne. Wer bist du?«
»Robin. Robin Collins. Geboren hier in Hamburg. 16.10.03.« Der Arzt trug die Daten in seinem Klemmbrett ein. Und bedachte ihn mit einem prüfenden Blick.
»Deine Eltern?«
»Wozu brauchen Sie die?«
»Du bist ganz offensichtlich minderjährig und deshalb gehe davon aus, dass du bei ihnen lebst.«
»Katharina und Alexander Collins. Sie sind tot.«
»Oh. Das tut mir leid.«
»Da sind sie der Erste.«
»Wann sind sie gestorben? Darf ich das fragen?«
»Vor...« Robin überlegte. Wenn heute der 22. Mai war, dann waren genau...308 Tage vergangen. Seit dieser schrecklichen Nacht. »Vor 308 Tagen.« sagte er schließlich.
Laura und der Arzt sahen sich an. »Das ist wirklich traurig.« konnte er nur sagen.
Robin war immer noch unglücklich. Der Redefluss geriet ins Stocken. Schweigend sahen Laura und er sich an. Nach einer Weile räusperte sich der Arzt.
»Dann wird es Zeit sich um dich zu kümmern. Du solltest nun gehen Laura. Deine Eltern warten sicher schon.«
»Ja. Es ist schon spät. Bis morgen Robin. Schön, dass du da bist.« sagte sie und verließ das Zimmer.
Schön, dass du da bist. Dieser Satz war Musik in Robins Ohren. Jemand, der sich darüber freute, dass er überlebt hatte.
»Ist sie oft hier?« fragte er. »Jeden Tag.« sagte der Arzt, während er die Monitore der Geräte betrachtete. »Eine Zeit lang hat sie sogar mit dir gesprochen oder dir vorgelesen. Ihr Bruder und die Eltern waren auch oft hier. Sie waren alle sehr in Sorge um dich und wollten sich die Schuld geben, wenn mit dir etwas nicht in Ordnung ist. Für die Amputation können sie allerdings rein gar nichts, aber sie wollen dafür aufkommen.«
»Wie stellen sie sich das vor? Wollen mir einen Rollstuhl kaufen. Vielen Dank.« meinte Robin sarkastisch. »Sie lassen dir Prothesen fertigen, mit denen du wieder laufen werden kannst.« sagte der Arzt. Robin riss die Augen auf.
»Ihr Ernst? Das...das ist...« »Ja?«
»Das kann ich nicht annehmen.«
»Du bist im Recht. Du hast ihnen das Leben gerettet und jetzt revanchieren sie sich.«
»Sie haben mir das Leben gerettet. Das ist Revanche zurück. Ich kann das auf keinen Fall annehmen.«
»Der Rollstuhl steht schon bereit.«
Zerknirscht zog Robin den Kopf ein.

Der weiße TigerWhere stories live. Discover now