Tag 380

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Das Haus, in dem sich das Wohnheim befand, war ein grau verputztes, drei stockiges Gebäude irgendwo mitten in Hamburg.
Robin missfiel schon der erste Eindruck. Hier war er jeden Morgen vorbeigekommen, wenn er zur Schule ging. Gleich um die nächste Straßenecke befand sich eine S-Bahn Station und drei Straßen in die andere Richtung lag seine alte Schule.
Der Mitarbeiter des Jugendamtes, der ihn begleitete klingelte am einzigen Klingelschild.
Robins Knie zitterten. Hinter dieser Tür befand sich sein neues Leben. Sein vermeidlich besseres Leben.
Alle hatten gesagt, dass es das Beste sei, sogar Laura, obwohl Robin eigentlich gedacht hatte, ihre Familie würde ihn aufnehmen, was er zum einen nicht gewollt hatte und zum anderen hatte dies auch nie zur Debatte gestanden.
Der kleine Felix hatte immer noch Angst vor ihm. Die schrecklichen Ereignisse in Afrika hatten den Kleinen völlig traumatisiert. Robin konnte es ihm nicht verübeln.
Ein Mädchen mit türkisem Haar und Lippenpirsing öffnete die Tür.
»Was gib's?« fragte sie desinteressiert.
»Hallo Anna. Schön dich zu sehen.« sagte der Sozialarbeiter. »Tim.« »Ich habe hier einen neuen Mitbewohner für dich.«
Anna musterte Robin von oben bis unten und zuckte mit den Schultern.
»Frau Ahrens ist oben.« sagte sie noch und verschwand im Haus.
Robin atmete einmal tief durch und folgte ihr.
Tim folgte und steuerte dann auf die Treppe zu.
Treppen waren für Robin immer noch ein Hindernis.
Etwas aufgeregt stützte er sich am Geländer ab und schob sich Stufe um Stufe nach oben.
Oben angekommen befanden sie sich in einem schmalen Flur, von dem drei Türen abgingen. Zwei waren mit bunten Türschildern behängt, die dritte-ganz rechte-war schmucklos.
Die Mittlere stand offen und offenbarte den Blick in einen offenen Wohnraum bestehend aus einer Küche im Vordergrund und einem Wohnzimmer im Hintergrund.
Links führte noch eine weitere Treppe hoch.
Alles war farbenfroh und freundlich.
Anna hatte sich zu einem Jungen, der etwas älter, als Robin zu sein schien, auf die Couch gesetzt und starrte auf ihr Handy.
»Hallo. Alle zusammen.« rief Tim und trat ein. Robin folgte.
Auf dem Fußboden lag noch ein weiterer Junge und von oben kam ein weiteres Mädchen heran.
»Ich bringe euch euren neuen Mitbewohner.«
»Oh. Wie schön. Endlich bist du da, Robin.« sagte eine Frauenstimme hinter ihnen.
»Hallo.« meinte Robin stumpf. Tim und die Frau wechselten noch ein paar Worte, dann ging Tim.
Die Frau lächelte strahlend.
»Ja. Also. Das ist Robin. Er ist knapp ein Jahr Waise...« »Und Soldat.« unterbrach der Junge auf der Couch. »Was?« fragte die Frau. »Sie sollten seine Akte nicht so offen rumliegen lassen. Ich konnte einfach nicht wieder stehen.«
»Na dann kann ich mir die Vorstellung ja sparen.« meinte die Frau tadelnd.
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Was glaubst du denn alles über mich zu wissen?« fragte Robin.
»Du bist Waise und warst in Afrika. Deine Eltern wurden irgendwie von Rebellen erschossen und du hast für die Menschen erschossen, dann hast du ner Familie Behrmann das Leben gerettet und wurdest selbst gerettet. Bist jetzt aber halb behindert. Joa. Das war's. Sonderlich viel stand da nicht.«
»Muss ja nicht jeder alles wissen.«
»Is mir eigentlich auch egal. Solange du mir nicht das Hirn wegpustest.« meinte er desinteressiert.
Schneller, als Robin es für möglich gehalten hatte, durchquerte er den Raum und bohrte dem Jungen den Finger in die Brust.
»Nur damit du's weist. Ich habe nie auch nur einen einzigen getötet.«
Mit diesen Worten verließ er die Wohnung und war schneller draußen, als dass ihn irgendwer aufhalten konnte.
Seine Beine trugen ihn Richtung S-Bahn ehe er wusste, wo er hinwollte.
Er hatte noch das Wechselgeld von den Getränken, die er Laura und sich von Lauras Geld gekauft hatte, in der Tasche. Es reichte für ein Ticket hin und zurück.
Aber erstmal zurück. Zurück zu seinem Zuhause.

Die Häuser und die Straße sahen noch so aus, wie vor einem Jahr.
Bei Frau Walter wuchsen immer noch die großen Rhododendronbüsche im Vorgarten und Herr Vorberg fuhr immer noch den selben gelben Golf.
Mit flauem Gefühl im Magen ging Robin auf dem sandigen Fußweg unter den großen Buchen entlang.
Zu beiden Seiten säumten Villen aus dem letzten Jahrhundert die Straße, doch die Menschen in den Häusern hatten diese zumeist geerbt und waren meistens nicht reicher, als die anderen ein paar Straßen weiter. Natürlich gab es immer ein paar Ausnahmen.
Robins Herz schlug schneller, als sein Nachbarhaus in Sicht kam.
Ein altes Gebäude. Aus rotem Backstein und weißem Dachkasten mit Erker. Die Frau, die darin wohnte war schon steinalt und nutzte das obere Stockwerk kaum noch.
Ihr Schwiegersohn kam sie oft besuchen und arbeitete im Garten.
Robin hatte ihn immer gemocht und hatte sich gerne mit ihm unterhalten.
Nun stand vor dem Haus ein Zu Verkaufen-Schild.
Traurig schluckte Robin und bereitete sich auf die Gefühlsflut vor, die ihn überrollen würde, wenn er schräg um die Ecke bog und sein Elternhaus zu Gesicht bekam.
Einen Augenblick blieb er noch stehen, dann ging er so schnell er konnte um die Ecke.
Das, was er da sah, entsetzte ihn so stark, dass er einfach drauf losrannte. Er stürmte durch ein fremdes Gartentor in einen fremden, halbangelegten Garten, zu einer fremden Tür in einen fremden modernen Haus.
»Nein.« keuchte er und brach auf der Fußmatte zusammen. Das konnte nicht wahr sein. Wie viel sollte er noch verlieren.
Da öffnete jemand die Haustür. Erschrocken versuchte Robin aufzustehen, aber er brach wieder zusammen.
»Oh Gott. Ist alles in Ordnung?« fragte eine junge Männerstimme.
»Was ist hier passiert?« fragte Robin schwach.
»Wie meinst du das?«
»Ich hab hier gewohnt.«

Zehn Minuten später saß Robin in der modernen Einbauküche der neuen Familie.
Sie hießen Markus und Clara und ihre dreijährige Tochter trug den Namen Isabelle. Sie wohnten ein halbes Jahr hier. Vor knapp elf Monaten war Robins Haus abgebrannt. Die Polizei vermutete Brandstiftung, aber die Ermittlung hatte nie zu einem Schuldigen geführt. Dann war das Grundstück verkauft worden und Markus' Vater hatte es gekauft und seinem Sohn zur Hochzeit geschenkt. Den Rest konnte Robin sich denken.
Er drehte geistesabwesend seine Teetasse in den Händen.
Markus und Clara sahen ihn mitleidig an.
»Das tut mir schrecklich leid.« meinte Clara, dabei hatte Robin seine Geschichte nicht einmal erzählt.
»Das muss dir alles sehr unwirklich vorkommen.« sagte Markus.
»Mehr, als das. Ich hab das Gefühl, als wollte die Welt mich um jeden Preis loswerden.
Erst meine Eltern, dann meine Freunde, mein Leben, schließlich...meine Füße und nun-mein Zuhause. Das kann unmöglich Zufall sein.«
»Was meinst du damit?« fragte Clara.
Robin seufzte und nahm einen Schluck Tee.
»Vor einem Jahr waren meine Eltern und ich in Afrika im Urlaub. Ich weiß nicht mehr genau wo. Eigentlich wollte ich da nicht hin. Na ja. Am Anfang war noch alles super. Ich dachte das könnte ein guter Sommer werden, aber dann kamen Rebellen oder was auch immer sie waren. Sie haben alle in der Lodge, in der wir wohnten, umgebracht. Auch meine Eltern. Alle, außer mich.
Sie nahmen mich mit und haben mich gezwungen mit Waffen zu schießen, sogar andere zu erschießen. Ich hab mich schrecklich gefühlt. Ich konnte nicht mal ihre Sprache sprechen.
Da gab es aber zwei Jungen. Sie waren meine Freunde und haben mich unterstützt und mir geholfen das Elend zu überstehen, aber sie wurden getötet.
Dann bin ich mehrfach fast gestorben, wurde gequält und geschlagen. Ich kann das Gefühl gar nicht beschreiben.
Auf jeden Fall war ich irgendwann in einer Gruppe von wirklich kranken Typen. Der Anführer war zwar ganz nett zu mir, aber unberechenbar und ganz schön irre.
Wir griffen ein Feriendorf an und ich sollte den Keller elemieren, aber stattdessen hab ich drei Leuten das Leben gerettet, dann wurde ich in die Luft gesprengt, dann haben sie mich gerettet und zurück nach Deutschland gebracht. Die letzten Monate war ich einer Klinik und heute sollte ich in ein Jugendheim einziehen, aber ich hab's da nicht ertragen und bin weggelaufen. Hier her. Als ich gesehen habe, dass das Haus nicht mehr dasselbe war, hab ich einen Schock gekriegt. Das wars.«
Die beiden hatten ihm aufmerksam und entsetzt zugehört und ihr mitleidiger Blick lastete nun auf ihm.
»Ich hab so ziemlich alles verloren, was man verlieren kann.« meinte Robin und zuckte hilflos mit den Schultern.
»Vielleicht nicht alles.« sagte Clara und stand auf »Komm.«
Sie verließen die Küche und gingen ins gigantische Wohnzimmer. Eine Treppe führte nach oben und eine weiße Tür versperrte die Sicht auf den Garten.
Clara öffnete diese. Dahinter befand sich ein Wintergarten und darin stand ein weißer Flügel, der Robin die Kinnlade runter klappen ließ.
»Dieser Teil des Hauses wurde vom Feuer verschont. Wir haben ihn aufgebessert, aber der Flügel ist geblieben, auch wenn wir nicht spielen können, haben wir ihn stimmen lassen. Ich nehme an, du kannst spielen.« erklärte sie mit einem Lächeln.
Robin konnte nichts sagen. Er fuhr über das polierte Holz und strich über den Deckel.
»Es kommt mir vor, wie ein Leben.« sagte er und setzte sich.
Ehrfürchtig hob er den Deckel und drückte vorsichtig eine Taste. Ein F ertönte und er zuckte zusammen.
Clara lächelte immer noch gespannt. Robin holte einmal tief Luft und begann zu spielen. Das erste, was ihm einfiel war „Freude schöner Götterfunken".
Für einen Moment war die Welt in Ordnung, dann verklang der letzte Ton und Clara und auch Markus applaudierten.
»Du kannst herkommen und spielen, wenn du möchtest.« bot Markus an. »Nichts lieber, als das, aber...« »Das ist das Mindeste, was wir tun können. Schließlich gehört er dir.« unterbrach ihn Clara.
Robin musste lächeln.
»Danke. Ich glaube das ist bis jetzt das Beste, was mir seit 380 Tagen passiert ist.«

Der weiße TigerWhere stories live. Discover now