Tag 146

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»Hast du Stress?« fragte blutige Klinge.
Robin starrte verdrossen in die Ferne.
Stress vielleicht nicht, aber sicher Wut.
»Mit blauer Himmel?« hakte er nach »Der Kerl ist ein Idiot. Hält sich für was besseres, nur weil er freiwillig gekommen ist und seine Familie von hohem Stand ist oder so.«
Aha, also doch freiwillig. Die Vermutung hatte Robin schon die ganze Zeit.
Wie er durchs Lager stolzierte und wie er sprach. So zufrieden und überheblich. Jedes Mal, wenn er den Typen sah, wollte er sich am liebsten auf der Stelle übergeben.
»Hattet ihr wieder Streit?«
Vielleicht nicht direkt Streit, aber blauer Himmel hatte zum wiederholten Male auf ihn herum gehackt und ihn als erbärmlich und schwach bezeichnet. Das konnte er blutige Klinge natürlich nicht sagen, aber der Junge war vermutlich schlau genug zu erkennen, was los war.
»Ich hasse diesen Typen. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, würde ich ihm am liebsten den Hals umdrehen.«
Du sprichst mir aus der Seele, Bruder. Robin seufzte.
»Na ja. Eigentlich auch egal. Von so einem sollte man sich nicht unbedingt ärgern lassen.
Kommst du mit? Wir veranstalten ein Wettrennen beim Friedhof. Der Gewinner kriegt morgen die Hälfte der Mahlzeit des anderen.«
Robin nickte. Ein wenig Abwechslung würde ihm guttun. Seine Striemen waren etwas verheilt und taten nicht mehr weh. Allerdings waren sie noch klar und deutlich zu sehen, was ihm ab und zu ein Dorn im Auge war, wenn sein Blick zufällig auf seine Arme fiel.

Sie gingen gemeinsam nach dem Essen zum Friedhof. Die anderen waren schon da und steckten mit Stöckern die Rennstrecke ab.
»Hier gehts los. Dahinten um den Stock rum. Da zurück und zwischen den beiden Gräbern ist das Ziel. Es laufen immer zwei zur Zeit. Der Verlierer muss morgen dem Gewinner die Hälfte seines Essens abgeben.« erklärte graue Rache, der seid kurzem nicht mehr in der Mine arbeiten musste.
»Jo.« riefen ein paar.
»Also. Wer will zuerst?«
»Fallender Tropfen und ich laufen gegeneinander.» rief gebrochener Stein und stellte sich an die Startlinie.
»Och nö.« stöhnte sein Freund. »Komm schon. Das ist doch alles nur Spaß.« sagte kaltes Herz. »Na schön.«
»Auf die Plätze...fertig...und...los!« rief graue Rache und die Jungen rannten los. Die anderen feuerten sie freudig an.
Die beiden waren schnell und es war bis zum Schluss ein Kopf an Kopfrennen, bis fallender Tropfen im letzten Moment den entscheidenden Satz machte und eine Armlänge vor seinem Freund ins Ziel kam.
»Juhu!« jubelte er und ließ sich feiern.
»Die nächsten.«

Es war tatsächlich ein unterhaltsamer Nachmittag. Alle hatten Spaß und es war ein unglaubliches Gefühl. Es fühlte sich irgendwie an, als würden sie alle zusammen gehören.
So ein Gefühl hatte Robin zu Hause nie verspürt. Waren seine Freunde dort wirklich seine Freunde gewesen oder einfach nur Kumpels? Er stellte fest, dass hinter einer Freundschaft sich mehr verbarg, als zusammen abzuhängen.
Der Abend rückte näher und sie liefen immer noch um die Wette.
Kaltes Herz gegen blutige Klinge.
Blutige Klinge gegen Robin.
Robin gegen kaltes Herz.
Er verlor gegen blutige Klinge, gewann allerdings gegen kaltes Herz, der kurz vorm Ziel umknickte, sich aber glücklicherweise nicht verletzte.
Alle lachten fröhlich und ausgelassen, bis, wie sollte es anders sein, der Stimmungskiller schlecht hin, blauer Himmel auftauchte.
Mit hoch erhobenem Kinn und selbstgefälligem Grinsen stolzierte er auf sie zu.
»Wie ich sehe, habt ihr Spaß.« sagte er. Alle hörten sofort auf zu lachen und sahen ihn böse an.
»Ich will auch Spaß haben. Wer rennt gegen mich?«
Niemand rührte sich.
»Weißer Tiger...wie ist es mit dir?« fragte er. Robin wollte ablehnen, aber graue Rache schob ihn nach vorne.
»Wisch dem Blödmann das dämliche Grinsen aus dem Gesicht.« flüsterte er ihm zu. Robin schluckte und nickte stumm.
»Mach dich auf was gefasst, Weißer. Zuhause war ich der schnellste Sprinter in der Schule.« sagte er und lächelte übertrieben. Robin verdrehte deutlich die Augen, um zu zeigen, was er davon hielt.
»Sprichst immer noch kein Wort, was? Verschlage ich dir die Sprache?« höhnte er weiter.
»Er ist stumm. Kapier's endlich.«
Jetzt verdrehte blauer Himmel die Augen.
Sie machten sich bereit für den Start. Robin fixierte den Stock in der Ferne. In den nächsten zehn Sekunden würde es nicht wichtigeres in seinem Leben geben, als diesen Stock zu umrunden. Nahm er sich vor und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Auf die Plätze...« rief graue Rache leicht nervös »...fertig? Los!«
Robin sprintete los. Blendete alles um sich herum aus und sah zu, wie seine Beine in Richtung Stock trugen.
Er hörte blauer Himmels kontrollierten Atem direkt neben sich, doch ließ sich davon nicht ablenken.
Er holte einmal tief Luft und beschleunigte aufs Maximaltempo, das ihm im nächsten Moment fast aus der Kurve warf, sodass blauer Himmel sich von innen an ihm vorbei schob und sofort einen winzigen Vorsprung ausbaute. Er lachte schadenfroh.
Robin drückte abermals aufs Gas und holte wieder ein Stück auf. Es waren vielleicht noch fünfzehn Meter bis zum Ziel. Die Schreie der Jungen wurden lauter und erfüllten mit einem Mal seinen Ganzen Körper.
Mit letzter Kraft sprang er nach vorne und rammte blauer Himmel vor der Ziellinie zur Seite. Er stolperte über die Linie und stürzte danach gegen das Grab mit der Kobra.
Die Jungen jubelten.
»Hey!« schrie blauer Himmel entrüstet »Das war unfair!« »Seid wann spielen Mörder fair?« konterte blutige Klinge und beugte sich bedrohlich über blauer Himmel. Der Junge starrte ihn wütend an und sprang auf die Beine.
Seine Knie waren aufgeschürft und er wirkte den Tränen nah.
»Das wird ein Nachspiel haben!« verkündete er.
»Erstmal gibst du Morgen weißer Tiger die Hälfte von deinem Essen.« lachte graue Rache. »Ich denk gar nicht dran, du dämliche Goldratte.« rief blauer Himmel. »Pass auf, was du sagst, du Schnösel. Hier ist eindeutig einer gegen fünfzehn und ich bin nicht sicher, ob du dem gewachsen wärst.«
»Du Großmaul solltest mal deine Klappe halten.«
»Entspannt euch! Ist doch nur ein dummes Spiel!« versuchte kaltes Herz zu schlichten. »Misch dich nicht ein Halbherz! Das ist ne Sache zwischen mir und dem da.« er deutete auf Robin, der mal wieder die Augen verdrehte.
Mit drei schnellen Schritten war er bei ihm und funkelte ihn an. Einen Augenblick lang war blauer Himmel verunsichert, dann entspannte er sich, als von Robin keinerlei Gefahr ausging.
»Und was jetzt, Stummi?«
Emotionslos haute Robin ihm eine rein, dass er wie ein Sack Kartoffeln zu Boden ging. Die Jungen zogen überrascht die Luft ein, dann jubelten sie und lachten.
»Du bist Spitze, weißer Tiger. Weißt du das eigentlich? Genial!« lachte graue Rache und kriegte sich gar nicht mehr ein. Auch Robin musste schmunzeln. Ein befriedigendes Gefühl und der süße Geschmack der Macht breitete sich in seinem Körper aus.
Er schaute auf den benommenen blauer Himmel mit der blutenden Nase hinunter. Am liebsten hätte er noch einmal nachgetreten, aber das ginge wohl etwas zu weit.

Der weiße TigerWhere stories live. Discover now