Tag 390

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Sie gingen die selbe Strecke, wie am Vortag, allerdings wechselten sie nicht die Straßenseite.
Robin humpelte, wegen des kleinen Verbandes ein wenig und Mats schlurfte neben ihm her und wiederholte seine Fakten über die Schule.
Sie waren noch gar nicht weit gekommen, als ein Fahrrad sie überholte und plötzlich abbremste.
Im selben Moment erkannte Robin Laura. Sie lächelte mit ihrem traurig-freundlichen Blick an und stieg von ihrem Rad.
»Hey.« sagte sie.
»Hey.«
Mats starrte sie an.
»Was machst du hier?« fragte Robin. »Ich gehe hier zur Schule.« erklärte sie und deutete auf die andere Straßenseite.
Robin seufzte.
»Aber nicht lange. Erst seid diesem Jahr. Wegen dem Sprachprofil. Du weißt ja.« fügte sie noch hinzu.
»Ich wusste, dass du die Schule wechseln willst, aber ich hatte keine Ahnung, dass es ausgerechnet meine alte Schule sein musste.« sagte Robin. »Echt?«
Er nickte. »Tut mir leid. Ich hoffe nur, dass du eine schöne Schulzeit haben wirst. Auf der anderen Schule.« »Wird wohl okay.« zitierte Robin Mats.
»Und wer ist dein Begleiter?« fragte sie neugierig. »Mats.« sagte Mats schüchtern.
»Hey. Ich bin Laura.«
»Woher kennt ihr euch?« fragte Mats. »Lange Geschichte.« holte Robin aus. »Er hat mich und meine Familie in Afrika gerettet.« kam Laura ihm zuvor. Mats riss überrascht die Augen auf.
»Du bist Behrmann?« fragte er. Laura lachte. »Ja.«
»Carlo hat meine Akte gefilzt und allen erzählt, die es hören wollten oder auch nicht.«
»Wer ist Carlo?«
»Einer aus dem Jugendheim. Schwieriger Fall würde ich meinen.«
»Oh.«
Für einen Moment schwiegen sie sich an, dann ertönte ein Ruf von der anderen Straßenseite.
»Ey. Laura! Pass auf! Du stehst gerade vor Robin Tiger Collins dem größten Spießerschläger, den die Welt je gesehen hat.« Das war Jasper.
»Mit denen gibst du dich ab?« fragte Robin ohne auf die Bemerkung zu achten. »Sie schienen mir ganz nett.« »Such dir neue Freunde. Diese machen dein Leben nur kaputt.«
Vertrauensvoll berührte er sie an der Schulter. Sie sah ihn traurig und betroffen an.
Von der anderen Straßenseite ertönten immer noch blöde Sprüche.
»Vorsichtig! Gleich sticht er dich ab.« Das war Luke.
Wut stieg wieder in Robin auf. Er hätte nie gedacht, dass seine einstigen Freunde eines Tages gegen ihn schießen würden. Nur weil er nicht mehr der war, den sie gekannt hatten. Weil er nun nur noch irgendein Junge war und mittellos.
Er verabschiedete sich von Laura und eilte mit Mats zur Schule.

Es hatte bereits geklingelt und Robin humpelte so schnell er konnte durch die Gänge.
Mats wusste, wo sie hin mussten. Die Lehrerin erwartete sie bereits.
»Zu spät.« kommentierte jemand aus der Klasse.
Die Lehrerin betrachtete Robin, wie er sich gezwungen neben ein Mädchen in der dritten setzte.
»Ihr solltet früher losgehen, damit ihr rechtzeitig ankommt. Es scheint ja doch etwas länger zu dauern.« sagte sie.
»Wir wurden aufgehalten.« erklärte Mats.
»Na ja. Dann auch euch willkommen.«
»Einen Tag später.« rief ein Junge aus der letzten Reihe. Die Lehrerin ignorierte ihn. »Für alle, die es jetzt noch nicht mitbekommen haben:das ist Robin. Er hat ein schlimmes Jahr hinter sich und versucht bei uns einen Neuanfang. Ich hoffe, dass du dich bei uns wohl fühlen willst und endlich wieder aufatmen kannst.« sagte sie. Robin nickte dankend.
Sobald die Lehrerin sich umgedreht hatte, erhob sich ein Lautstärkepegel, der Robin lauter vorkam, als der Lärm der Schusswaffen, die ihn tagtäglich umgeben hatten.
»Ich bin Ida.« sagte das Mädchen neben ihm plötzlich. Sie hatte eine Zahnspange und trug ein graues schulterfreies Kleid.
»Freut mich.« erwiderte Robin beiläufig und starrte scheinbar konzentriert nach vorne.
»Sind deine Eltern gestorben?« fragte Ida. »Auch, aber das quält mich nicht mehr.« sagte er.
»Haben sie dich geschlagen?«
»Was? Nein. Es ist nur sehr viel mehr dazwischen gekommen.«
»Was denn?«
»Das geht dich nichts an.«
Beleidigt wandte Ida sich ihrer Sitznachbarin zu.
Robin versuchte dem Unterricht zu folgen, doch das ständige Geplapperte raubte ihm jede Konzentration.

In der nächsten Stunde hatte er Französisch. Auf seiner alten Schule hatte er Latein gehabt, aber alle dachten er könne richtig gut Französisch sprechen, nach dem Jahr in Afrika.
Robin hätte nicht einmal gewusst, dass die Sprache dort Französisch gewesen war und gesprochen hatte er es ja nicht geschweige denn geschrieben.

»Salut. Freut mich dich kennenzulernen, Robin.« sagte der Französischlehrer »Ich hoffe wir werden ein tolles Jahr zusammen erleben und viel Spaß haben. Verstehst du mich?«
»Äh. Ja.« sagte Robin unsicher.
»Sehr schön. Du bist sicherlich eine Bereicherung für unsere Gruppe.«
»Das muss ein Missverständnis sein. Ich wusste nicht einmal, dass ich Französisch sprechen beziehungsweise ich hab's nie gesprochen.«
»Wie?«
Robin seufzte.
»Ich...ich war stumm. Das ganze Jahr hindurch. Ich habe keine Ahnung von irgendwelcher Grammatik, Rechtschreibung oder sonst was. Ich hab's immer nur gehört.«
»Na ja. Das klingt nicht nach einem Problem. Du wirst es sicher schnell lernen und all das was du letztes Jahr gehört hast, wird bald über deine Lippen kommen.« meinte der Lehrer optimistisch. Robin war sich da nicht so sicher, aber verzichtete auf weiteren Protest.
Tatsächlich verstand er fast jedes Wort, was gesprochen wurde und versuchte es selbst. Beim Lesen kam er sich vor, wie in der ersten Klasse und schreiben war noch gar nicht möglich.
Der Lehrer ermutigte ihn zu jedem Wort und war begeistert, was Robin in der ersten Stunde schon alles gelernt hatte.
Robin selbst kam sich albern vor, als er bei Mats und einem anderen Jungen, dessen Namen er vergessen hatte, auf dem Schulhof stand.
Die beiden redeten über ihre Ferien. Robin hoffte, sie würden nicht fragen, was er gemacht hatte.
Krankengymnastik und Kakaotrinken klang nicht sehr spannend und war es auch nicht gewesen.

Nach der Schule trotteten sie wieder zurück. Robin hatte keine Lust auf Hausaufgaben oder sonstige Aktivitäten. Selbst Mittagessen wollte er nicht. Alles fühlte sich fremd und anders an. Er hatte gehofft ein geregelter Tagesablauf und der Unterricht würden ihm helfen wieder auf die Spur zu kommen, doch er hatte das Gefühl immer mehr zur Seite zu treiben.

Ausgerechnet Laura und ihre Freunde begegneten ihnen kurz vor dem Jugendheim.
»Hey. Robin.« sagte Laura. »Hallo.« antwortete Robin tonlos. »Schönen Schultag gehabt?« »Okay.«
»Niemanden abgestochen?«stichele Jasper. »Noch nicht.« meinte Robin und funkelte ihn böse an.
»Is Laura deine Freundin?« fragte Lynn zickig. »Nein. Wir kennen uns nur so.« sagte Laura. »Dich hab ich nicht gefragt.« motzte Lynn. »Was ist dein Problem?« fuhr Robin gegen sie. »Was ist dein Problem?« hetzte Lynn. Robin schüttelte den Kopf und humpelte weiter.

»Willst du am Samstag zur Familienfeier kommen?« rief ihm Laura hinterher. Er drehte sich noch einmal um.
»Nein. Das will ich deinem Bruder nicht antuen. Tut mir leid.« antwortete er und beeilte sich, mit Mats an seiner Seite schnell nach Hause zu kommen.

Wie lange es wohl dauern würde bis er sagen konnte, dass er zurück war?
Zurück im Leben und abgeschlossen hatte, mit dem, was hinter ihm lag?
Und wie lange würde er wohl noch von sieben einsamen Jungen in der Wildnis träumen bis er sich damit abgefunden hatte, dass sie tot waren?

Nie, lautete die Antwort.

Aber das wusste Robin an diesem Tag noch nicht und so erfüllte die Hoffnung ihn an diesem Tag stärker als alle 390 Tage zuvor.

Der weiße TigerWhere stories live. Discover now