Tag 291

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»Siehst du das, mein Junge? Das ist die Zukunft. Unsere Zukunft!« flüsterte Venn dramatisch und gestikulierte mit den Händen.
Robin starrte angestrengt nach Westen, gegen das Licht der untergehenden Sonne und beobachtete, wie die Schatten der schicken Bungalows in nicht allzu weiter Ferne länger wurden.
»Was für eine Zukunft, Venn?« fragte Wolf begriffsstutzig. »Schwer von Begriff? Da unten wimmelt es nur von potenziellen Soldaten. Elitesoldaten. Solche, wie Robin und seine Freunde. Wir werden noch mächtiger sein und unbesiegbar, wenn wir sie in unserer Gewalt haben.«
»Ach ja. Aber...wie willst du sie dazu bewegen mit dir zu ziehen?«
»Gar nicht, du Trottel! Wir entführen sie. Was meinst du warum wir uns den ganzen Monat durch feindliches Gebiet gekämpft haben und neue Waffen gekauft haben?«
Robin seufzte. Allein die Erinnerung an die vergangen Wochen machte ihn unendlich müde.
Sicherlich wäre es hilfreich gewesen, Venn zu erklären, dass nicht alle Jungen Killermaschinen waren.
Allerdings konnte durchaus jeder zu einer werden und Venn schien das zu wissen.
Robin hatte ein ungutes Gefühl dabei. Er wollte nicht schon wieder sich in eine Schlacht verwickeln lassen. Vermeidlich Unschuldige töten und sich von Venn volllappen zu lassen, über diese und jene Waffe, über ihre glorreiche Zukunft und den Verrat seiner missratenen Freunde, wobei er immer betonte, dass ihre Talente nicht missraten waren und es eine Schande war, dass sie weggelaufen sind.
Robin fragte sich jedes Mal, was er ihm eigentlich sagen wollte und jedes Mal vermutete er eine Drohung und nahm sich vor Venn in Acht. Er tat nie etwas Falsches oder Unüberlegtes und vertuschte seine Gutherzigkeit, so gut er konnte. Bisher hatte niemand etwas gerochen und Venn hielt ihn immer noch für einen blutrünstigen Killer, der vor nichts zurückschreckte.
»So geht's!« sagte er immer und klopfte ihm auf die Schulter, wenn ihr Unheil vollbracht war.
Robin fühlte sich danach immer schrecklich ausgemergelt und zerschlagen. Meistens plagten ihn Albträume. Meistens von Venn, wie er ihn mit seinem netten Lächeln abstach.

Sie warteten die völlige Dunkelheit ab, als alle Lichter in den Häusern erloschen waren und nur noch die Laternen die Straße beschienen.
Robin war in eine Gruppe eingeteilt, die sich das größte Gebäude vornehmen sollte. Jedes Haus war mit einem dünnen Kniehohen Zaun umspannt auf dem offenbar Strom floss. Vermutlich um wilde Tiere abzuhalten. Leider keine Märtyrer.
Robin stieg mit schlechten Gewissen darüber hinweg und betrat hinter einem der Männer das Haus.
Drinnen war es finster. Die Schritte hallten von den Wänden wieder und wurden seltsam fortgetragen, wie in einer Kirche.
Einer schaltete eine Lampe ein. Die Eingangshalle war groß und war mit Marmorfliesen ausgelegt. Alles wirkte neu und sauber.
Eine breite Treppe führte in den oberen Stock und eine Doppelflügeltür in die hinteren Bereiche des Gebäudes.
Zu ihrer Rechten befand sich noch eine weitere, kleinere Tür.
»Du gehst da durch, Robin.« wies einer ihn an und deutete auf die rechte Tür. »Erschieß jeden, der dir entgegenkommt, es sei denn er sieht so aus, als könnte er kämpfen.« »Du brauchst ihm nicht zu erklären, was er machen soll. Er ist doch Profi.« meinte ein anderer. Ist klar.
Leise diskutierend entfernten sich die Männer. Robin seufzte und trat durch die Tür.
Eine Treppe führte in den Keller.
Dort leuchteten Notausgangsschilder und ermöglichten Robin ein sicheres Vorankommen.
Der Keller sah nicht so aus, als würden hier Weinfässer gelagert werden. Die Türen waren aus edlem Holz und der Boden war mit Teppich ausgelegt. Es sah aus, wie in einem Hotel.
Robin fragte sich, wer ein Zimmer im Keller buchen würden.
Über ihm ertönten Schüsse und Schreie. Kurze Zeit später ging der Alarm los.

Robins Atem beschleunigte sich und er blieb angewurzelt stehen.
Aus einem der Zimmer stürmte ein kleiner Junge und zwei Frauen. Sie schrieen erstickt auf, als sie Robin entdeckten.
»Bleib ruhig, Felix. Alles wird gut.« sagte die jüngere Frau, die eher noch ein Mädchen war und schlang ihre Arme um den Jungen.
Deutsche.
Robin konnte sich immer noch nicht rühren. Er starrte die drei an und sie hoben ängstlich die Hände.
Er senkte schließlich die Waffe.
»Kr...« entwich seiner Kehle. Er räusperte sich. »Kein...« wieder brach seine Stimme. Ein Kratzen breitete sich in seinem Hals aus und Adrenalin schoss durch seine Adern.
»Keine Angst...ich tu nix.« bekam er schließlich mühevoll heraus.
Die drei starrten ihn überrascht an. Er ließ seine Waffe auf den Boden fallen.
»Ihr...müsst...euch...verstecken.« Jedes Wort war eine Qual, aber er musste sprechen. Er musste sprechen. »Sie...kommen!Raus...hier.«
Er hob die Waffe wieder auf und schoss auf den Teppich. Das Mädchen schrie entsetzt und der Junge fing zu weinen an.
»Raus!« schrie Robin nun sehr schrill. Sie erkannten seine Panik und Verzweiflung.
»Zum Notausgang.« sagte die Frau und rannte los. Der Junge folgte.
Das Mädchen verweilte noch eine Sekunde.
»Danke.« sagte sie und lächelte ihn an. Robin stand immer noch erstarrt da.
Als sie verschwunden war, leerte er sein Magazin auf den Fußboden und checkte jedes Zimmer, doch sie alle waren leer.

In der Eingangshalle herrschte Tumult. Die Männer hatten jede Menge kaputt geschossen und die Tür lag in Trümmern da.
Von so einem heftigen Kampf hatte Robin gar nicht mitbekommen. Der Alarm war aus und auch alle weiteren Lichter.
Draußen waren Schritte, Schreie und andere Stimmen zu hören.
Robin betrachtete ein Gemälde neben der Tür.
Es zeigte die unendliche afrikanische Landschaft. Er hätte gerne mehr Zeit damit zugebracht es zu betrachten, als jemand schrie.
»Achtung!«
Alarmiert fuhr Robin herum. Ein schrilles Piepen ertönte.
Er hatte keine Zeit nachzudenken, was das sein konnte und ergriff die Flucht. Bis nach draußen waren es vielleicht zehn Meter, doch mit jedem Meter wurde das Piepen lauter und eindringlicher, als Robin glaubte, ihm würde das Trommelfell platzen, erfasste ihn aus dem Nichts eine gewaltige Druckwelle.
Er stürzte nach vorne. Holzsplitter und Steine wirbelten um ihn herum.
Der Stromzaun schien förmlich zu explodieren.
Mit einem harten Ruck schlug Robin auf den Boden auf und seine Gedanken entfernten sich. Von einer Sekunde auf die andere wusste er nicht mehr, wo oben und unten war und mit der Verwirrung breitete sich der Schmerz aus und die Leere.

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Der weiße TigerWhere stories live. Discover now