alte Tradition

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Es regnete. Stürmte. Blitzte und donnerte.

,,Wir müssen zurück!'', schrie Harald, dessen Stimme durch den Regen unterging.

,,Ich gehe erst, wenn ich meinen Bruder gefunden habe!'', widersprach ich direkt und ging weiter. Auf keinen Fall würde ich ohne ihn zurückgehen!

,,Das ist zu gefährlich! Das weißt du genau.'' Haralds Hand bestimmter Griff um mein Handgelenk brachte mich ruckartig zum Stehen.

,,Bitte Harald! Ciljan ist noch so klein!'', rief ich und spürte wie mir Tränen in die Augen stiegen.

Ich schaute Harald und Niko verzweifelt an. Unsere Kleidung war durchnässt, beide wirkten nicht begeistert von meiner Widerrede.

,,Jonna, vertrau mir! Es ist besser, wenn wir zurückgehen! Ich werde keinen Schritt weiter gehen und du auch nicht!'' Harald sprach mit solch einer Entschlossenheit, dass die meisten wohl klein bei gaben. Doch nach allem was ich in den letzten Monaten erlebt hatte, wusste ich, dass Familie das wichtigste im Leben war. Sander, Ciljan. Die würde ich nie im Stich lassen.

Ich riss mich von Harald los und ging weiter. Irgendwo musste Ciljan sein!

,,Du kannst bei dem Unwetter nicht alleine durch den Wald irren!'', rief Harald wütend.

Ich hielt inne, als ich plötzlich mein Handy vibrieren hörte. Mit zittrigen Händen nahm ich den Anruf entgegen.

,,Sander?'', schrie ich ins Handy.

,,Kommt nachhause, er ist da.''

Ich dachte zuerst, ich hatte mir Sanders Anruf eingebildet. Schluchzend ließ ich mich auf den Schnee fallen und atmete erleichtert aus. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so befreit gefühlt.

,,Ok.'', flüsterte ich und war mir sicher, dass Sander es nicht gehört hatte. Ich legte auf und schaute zu Harald und Niko, die sich nicht von der Stelle bewegt hatten. Erst als ich die beiden anschaute, kamen sie unruhig auf mich zugelaufen.

Sie dachten bestimmt, Ciljan war etwas passiert.

,,Alles ist gut!'', sagte ich erschöpft.

,,..er ist zuhause.'', hing ich ran.

Die beiden atmeten erleichtert aus. Sie waren genauso angespannt wie ich gewesen, hatten sich jedoch nichts anmerken lassen.

,,Komm, gehen wir!'' Niko kam auf mich zu gelaufen und reichte mir seine Hand. Ich nahm sie an und ließ mir hoch helfen.

Stillschweigend gingen wir schnellen Schrittes nachhause. Es regnete aus Eimern, donnerte.

Geschlagene 30 Minuten brauchten wir nachhause.

Ich dachte nur daran, wie froh ich war, dass Ciljan wieder da war. Der Rest war mir egal.

Sander empfing uns erleichtert, als wir vor der Hütte zum stehen kamen.

Er umarmte uns alle fest. Ich drückte ihn ebenso fest an mich, froh, angekommen zu sein.

,,Zieht euch bitte draußen aus. Sonst tropft ihr die Hütte voll.'', sagte Sander mit Blick auf unsere Kleidung. Ich schaute an mir herunter. Meine Winterjacke hatte irgendwann den Geist aufgeben, wie ich feststellte, als ich sie auszog. Meine Jogginghose klebte unangenehm an meinen Beinen. Mein Pullover war ebenso nass.

,,Ich sah genauso aus und habe erstmal ne schnelle heiße Dusche genommen. Das solltet ihr auch tuen.''

Ich nickte und eilte direkt ins Warme, ebenso Niko und Harald. Zuerst nahm ich mir jedoch Sander zur Seite, weil ich endlich den Grund für das Verschwinden wissen wollte.

,,Warum Sander?'', fragte ich bloß und schaute ihn bestürzt an. Seit wann musste man sich Sorgen darum machen, dass Ciljan ohne nachzudenken abhaute?

,,Er wolle Schlitten fahren. Morgens, als ich weg war und du noch im Bett lagst. Ihm war langweilig.'' An Sanders tiefer Falte erkannte ich, wie wütend er auf Ciljan war.

In mir dagegen überwog noch immer die pure Erleichterung. Deswegen fiel es mir schwer, wütend auf Ciljan zu sein.

,,Wo ist Ciljan?'', fragte ich, ohne auf seine Wut einzugehen. Ich war mir sicher, dass Sander bloß etwas runter kommen musste. Ihm zu sagen, er solle sich beruhigen, war sicherlich nicht fördernd.

,,In seinem Zimmer. Er heult, aber ich habe keine Motivation, ihn zu trösten.'', sagte Sander kühl. Ich riss erschrocken meine Augen auf und war mir nicht mehr so sicher, was ich über Sanders Verhalten denken sollte.

Ich schaute ihn nun doch mit Unverständnis an.

Wusste jedoch ehrlich gesagt nicht, was ich sagen sollte.

,,Er hat es übertrieben heute, ganz ehrlich! Oder siehst du das anders?'' Er schaute bedeutungsvoll auf mich herab. Ich trug nur noch Unterhose und T-Shirt und auch das war in Mitleidenschaft gezogen worden von dem
Unwetter.

,,Kinder machen Fehler.'', sagte ich seufzend. Leider konnte ich mir ein Hustenanfall nicht verkneifen.

Ich ließ Sander alleine und suchte ging zu Ciljan.

Ich trat schnurstracks in sein Zimmer ein, gespannt, ob Sanders Bericht stimmte.

,,Es tut mir leid!'', empfing er mich direkt und wischte sich ein paar Tränen weg. Er stand reuevoll vor mir und schaute mich aus großen Augen an.

Ich rang kurz mit mir, umarmte ihn aber schließlich.

,,Sander hasst mich!'', schluchze er in mein T-Shirt. Ich atmete tief durch und strich Ciljan beruhigend über den Rücken.

,,Er hasst dich nicht!'', widersprach ich.

,,Er muss sich nur etwas beruhigen. Er hatte wahnsinnige Angst um dich! Wieso Ciljan, sag mir nur den Grund!'', forderte ich ruhig.

Mein kleiner Bruder löste sich aus der Umarmung und schaute auf den Boden.

,,Es hat Neuschnee gegeben. Ich wollte das ausnutzen, bevor Niko und so kommen würden. Dann hätten wir das sowieso nicht gemacht und ich wollte das unbedingt nochmal hier machen. Und dann kam das Unwetter und ich hab mich verirrt. Es tut mir leid, Jonna!'' Ciljan redete  so schnell, dass ich Mühe hatte Schritt zu halten.

Ich verstand seine Beweggründe. Früher waren wir hier immer Schlitten fahren. Jede Jahr. Bis Sander nach Paris gegangen war. Nun waren wir wieder hier. Doch Sander und ich kamen nicht auf die Idee, die Tradition wieder aufleben zu lassen.

Und Ciljan hatte sich nicht getraut, uns zu fragen. Aus Angst, dass wir ihn nicht verstanden. Seinen Kummer, den er hatte, weil wir ihn alleine gelassen hatten mit unseren Eltern, die längst nicht den Abenteuer drang verspürten, wie Sander und ich.

,,Es ist ok. Ich rede mit Sander.'' Ich schaute ihn verstehend an. Ciljan nickte und umarmte mich erneut ganz fest.

Alles würde gut werden. So war es doch immer als kleines Kind gelaufen.

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