Unangenehm

261 14 6
                                    

Ich wusste nicht, was ich tuen sollte. Alles in mir sträubte sich, zurück zum Internat zu kehren. Ich konnte einfach nicht. Ich wollte nicht mehr.

Ich schaute mit leeren Augen aus dem Zug und sah die Landschaft an mir vorbei ziehen. Tommi und Maxi waren bereits wieder im Internat. Ich dagegen hatte mich so lange wie möglich gedrückt, die Heimreise anzutreten.

Seufzend stand ich auf, um in Hamburg umzusteigen. Ich hatte keine Lust mehr und wollte einfach nur ins Bett. Weg von den Menschen. Mich in Selbstmitleid einlullen.

Ich zog das Gepäck hinter mir her und schaute auf den Plan, um einen Überblick zu erhalten. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hin musste. Meine Augen flogen über das Board.
Magdeburg. Hannover. Zürich. Prag. Alles Orte, zu denen ich lieber wollte.

Kiel Hauptbahnhof. Meine Augen konnten den Blick nicht losreißen. Ich wusste nicht, was ich tat, als meine Augen zum Gleis schauten. Gleis 5. Wie in Zeitlupe ging, ehrlicherweise rannte ich, zum Gleis. Der Zug fuhr jede Minute ab. Ich hatte kein Ticket. Kein Plan. Aber ich ließ mein Herz entscheiden.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Ich war durchweg angespannt, als ich im Zug saß. Ich wusste nicht, wie teuer Schwarzfahren in Deutschland war, aber günstig war es mit Sicherheit nicht.

Was tat ich hier eigentlich? Für heute war Training angesetzt. Ich würde Schwänzen. Das hatte ich noch nie getan. Zudem war Sander gar nicht zuhause. Wo sollte ich unterkommen? Was hatte ich mir dabei gedacht?

Die anfängliche Euphorie und das gute Gefühl waren verschwunden, als ich am Kieler Hauptbahnhof stand. Ich beobachtete die Menschen am Bahnhof, welche alle ein Ziel hatten. Ich hatte keins. Ich wusste nicht, wo ich hingehörte. Nicht nach Norwegen. Nicht nach Flensburg.

Ich überlege. Sander hatte ein Auswärtsspiel. Verdammt.

Gedankenversunken ging ich auf den Instagram Account vom THW Kiel. Niklas Landin fehlte aufgrund einer Verletzung. Na super. Mit dem habe ich noch nie ein Wort gewechselt.

Was war das für eine Katastrophe. Vor lauter Verzweiflung ließ ich mich auf eine Bank sinken und wischte die Tränen weg. Ich fühlte mich so alleine.

Schließlich raffte ich mich auf und marschierte aus dem Bahnhof heraus. Ich holte mein Handy heraus und tippte auf Magnus Nummer. Wie Erbärmlichkeit war es bitte ihn anzuschreiben? Er würde es Sander mit Sicherheit erzählen.

Ich kniff die Augen zusammen, als ich auf dem grünen Hörer drückte. Was anderes fiel mir nicht ein.

,,Hallo?'', hörte ich eine verwirrte Stimme abnehmen. Bestimmt hatte er mich nicht eingespeichert. Ich erinnerte mich, dass wir Nummern ausgetauscht hatten im betrunkenen Zustand. Daran konnte er sich bestimmt nicht mehr erinnern.

,,Hi, hier ist Jonna, wo bist du gerade?'', fragte ich direkt.

,,Äh hi, in meinem Zimmer, wieso?'' Ich konnte die Skepsis und Überraschung durchs Telefon  hindurch bis zu mir spüren.

,,Alleine?'', erwiderte ich.

,,Äh.. ne Rune ist bei mir und der schaut mich gerade an, als wäre ich ein Alien.''Glücklicherweise war Magnus ins Dänische gewechselt, was mich erleichtert ausatmen lässt. Was Rune wusste, wusste auch Sander. Die beiden konnten keine Geheimnisse voreinander verbergen.

,,Ich will gar nicht lange stören. Ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht bei deinem Bruder unterkommen könnte, bis ihr wieder da seid.''

Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden, obwohl er mich noch nicht einmal sah. Es war mir so unangenehm.

,,Warte was? Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit dir?'' Ich hörte Magnus Panik in seiner Stimme.

,,Es ist alles gut. Bitte sag Rune nichts!'', flehte ich.

,,Sag mir was los ist!'', bat Magnus mich bestimmend.

,,Ich..'' Mein Gehirn ratterte. Was sollte ich ihm sagen? Das war der Moment, in dem ich Panik bekam.

,,Wenn du mir nichts sagst, kann ich das nicht mit mir vereinbaren, nichts zu sagen. Du bist 16.'', übte Magnus Druck auf mich aus. 

,,Ach aber dich mit mir zu besäufen ist kein Problem für dich?'', erwiderte ich wütend.

,,Da war ich selber betrunken. Also: sag mir die Wahrheit! Was ist passiert? Wieso bist du in Kiel?'', bombardierte Magnus mich mit unangenehmen Fragen. Ich hatte ihn eindeutig falsch eingeschätzt.

,,Weißt du was? Vergiss es!''

Frustriert legte ich auf. Magnus rief mich überraschenderweise nicht zurück. Und schreiben tat er mir auch nicht. Ich hatte ihn definitiv anders eingeschätzt.

Überrascht starrte ich auf mein Handy, als ich sah, dass eine unbekannte Nummer mich anrief. Magnus war es wohl nicht.

,,Hallo?'', fragte ich unsicher in mein Handy.

,,Hey, hier ist Niklas. Magnus hat mir deine Nummer geschickt. Wo soll ich dich abholen?''

Vor lauter Verwirrung ließ ich mein Handy sinken. Was war das denn?

,,Hallo? Jonna?''

,,Äh jaja, ich bin am Hauptbahnhof.'', erwiderte ich mit klopfenden Herzen. Das hier übersteigerte wirklich alles, was ich bisher erlebt hatte. Es beunruhigte mich, wie gut Magnus mich kannte und meine miserable Situation direkt richtig gedeutet hatte. War es so offensichtlich, dass ich mein Leben nicht im Griff hatte?

,,Ok ich bin gleich da. Bleib einfach da wo du bist.''

,,Ja äh ok.''

Niklas Landin legte auf und ich starrte immer noch verwirrt aufs Handy. Was war das denn gewesen?

Ich fühlte mich so wahnsinnig kindisch und unselbstständig. Aber ich hatte nun mal kein Geld und keine Kreditkarte dabei. Ich musste bei jemanden unterkommen. Aber das es Niklas Landin sein musste.. ich kannte ihn nicht. Habe noch nie mit ihm gesprochen.

Ich wusste nur, dass er Familie hatte. Oh Gott, das würde so peinlich werden.

Ich musste nicht lange warten bis ein auffällig schwarzes Auto vor mir halt machte. Unsicher blieb ich stehen. Die Autotür ging auf und ein großer Mann stieg aus. Es war nicht schwer zu erkennen, um wen es sich handelte. Niklas Landin trug Jogginghose und Sweatshirt und ich hatte das Gefühl, dass er gerade aus dem Bett geklingelt wurde.

,,Ähm hi.'', sagte ich leise, während Niklas mir stumm den Koffer abnahm und in das Auto verfrachtete. Die Situation wurde nicht besser, als Niklas mich ruhig und ernst fragte: ,,Wissen deine Eltern Bescheid? Ich habe keine Lust auf einen Anruf deiner Eltern.'' Seine Augen ruhten ruhig auf mir und ich realisierte, dass er mit seiner Ausstrahlung immer die Wahrheit aus den Menschen herausbekam.

Das konnte alles noch sehr viel unangenehmer werden..

Neues Kapitel :)

Under pressure. Everywhere. Where stories live. Discover now