1 - Schulalltag

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Konnte der Tag nicht endlich zu Ende sein? Sie hasste Montage. Überhaupt hasste sie alle Tage, an denen sie in die Schule musste. Was nicht am Unterricht lag, der war ganz ok. Eher an ihr. Oder an den anderen Schülern. Keine Ahnung. Von beidem etwas. Sie seufzte und dachte daran, dass sie heute Sportunterricht hatte. Sie verabscheute den Schulsport. Schon alleine das Umziehen war für sie eine Tortur. Die Blicke der Anderen, das Gekicher und die blöden Kommentare. Und immer musste sie so tun, als würden die Aussagen sie nicht treffen.

Doch das taten sie. Jede Spitze saß genau da, wo sie sollte. Sie verließ die Kabine der Schultoilette und stellte sich vors Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Ihr Blick flirrte automatisch zum Spiegel. Blonde Locken umrahmten ein Gesicht mit hellblauen Augen, einer Nase, die ganz passabel war, und vollen Lippen. Soweit ok. Aber der Rest? Der war nie in Ordnung gewesen.

Als sie geschaffen wurde, war wohl die Form zerbrochen, denn da klebte überall mehr, als es sollte. Was der Grund war, weshalb sie jeden Tag einen Spießrutenlauf absolvierte. Doch davon ahnte kaum jemand. Wieso auch? Die diversen Diäten, die sie im Laufe ihres Lebens ausprobiert hatte, hatten nicht gewirkt. Die hatten das Problem eher vergrößert. Darum war es nicht zu ändern, dass sie alle abstoßend fanden. Sie tat immer so, als würde sie die Gehässigkeiten nicht wahrnehmen. Aber sie hörte sie, spürte die Reaktionen auf ihre Anwesenheit.

Sie hatte so gehofft, dass sich das mit der neuen Schule und ihrem Umzug hierher nach Regensburg geändert hätte. Doch das hatte es nicht. Es war noch genauso bescheuert wie vorher, sie selbst zu sein.

Sie seufzte erneut und verließ die Toilette. Die Pause war gleich vorbei. Dann musste sie sich wieder mit 27 anderen Schülern den Raum teilen. Deutsch. Damit kam sie klar. Sprachen lagen ihr. Sie betrat den Klassenraum in dem Moment, in dem die Schulglocke den Beginn der neuen Stunde anläutete. Sie saß allein, in der ersten Reihe. Direkt vor den Augen des Lehrers. Der andeutete, sie solle sich beeilen, denn er wolle mit dem Unterricht beginnen.

„Die braucht halt länger, muss ja auch mehr durch die Gänge hieven", hörte sie von hinten und merkte, wie ihre Schultern wieder nach vorne sackten.

Wieso konnte sie nicht einfach unsichtbar sein? Oder normal? Sie hörte das Gekicher als Reaktion auf diesen Kommentar und wünschte sich, der Tag wäre schon vorbei. Doch sie hatte noch die zwei Deutschstunden und dann die Doppelstunde Sport vor sich. Super. Konnte nur besser werden, oder?

Sie vertiefte sich in die Literatur, die Herr Groschke gerade ausgeteilt hatte: Ein epischer Text, zu dem sie eine Interpretation erarbeiten sollten. Das war machbar. Sie kannte ihn nicht, aber er war ok, befand sie, nachdem sie ihn gelesen hatte. Sie beteiligte sich nicht an der Diskussion über die Zeilen, die vor ihr lagen. Sie hatte sich zwar ihre Meinung gebildet, doch die interessierte ohnehin niemanden.

Dachte sie zumindest, denn plötzlich fragte Herr Groschke: „Anna? Was sagen Sie zu dem Argument, das Kind solle sich nicht so haben und die Stiefmutter akzeptieren?"

Sie erschrak und musste sich räuspern, ehe sie antworten konnte: „Um ehrlich zu sein, finde ich die Betrachtung zu einseitig."

‚Oh nein, jetzt leuchtet Interesse in Groschkes Augen auf!', dachte sie panisch und wusste, dass sie diese These untermauern musste.

Was sich bestätigte, als der Lehrer fragte: „Inwiefern, Anna?"

Sie hörte das Getuschel hinter sich und schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte und antwortete: „Für ein Kind hat immer der neue Partner am Scheitern der Ehe seiner Eltern schuld. Das ist irrational, das mag sein, aber dennoch ist es so. Die Aussage würde also bedeuten, dass ein Kind auf den Schuldigen zugeht und die Verletzungen vergisst oder verdrängt, die aus der Trennung seiner Eltern resultieren. Ich glaube nicht, dass ein Kind mit geschätzt acht Jahren das kann. Es wünscht sich, dass sein Vater und seine Mutter wieder eine Einheit bilden und ihm die Sicherheit vermitteln, die es mit der Trennung verloren hat."

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now