27 - Abenteuer

175 34 173
                                    

Er sammelte sich noch kurz, ehe er berichtete: „Sie haben gesagt, dass sie einen Verdächtigen zur Befragung holen wollten. Sein Kollege und er. Der Verdächtige war nicht als gefährlich eingestuft worden, deswegen sind sie allein da hin. Es ging um ein Cyberverbrechen. Nichts deutete auf gewalttätige Tendenzen hin. Sie klingelten und sobald der Verdächtige die Tür geöffnet hatte, schoss er los. Mein Dad stieß seinen Kollegen zur Seite, weil der ein paar Tage später Vater werden sollte. Doch mein Dad wurde getroffen."

Erneut stockte er, weil er die Szene bildlich vor Augen hatte, ehe er weitererzählte: „In eine Schlagader. Er hatte keine Chance. Sie sagten, er habe gemurmelt, dass sie mir sagen sollten, es täte ihm leid, aber das Baby würde einen Vater brauchen. So wie ich ihn gebraucht habe, als ich auf die Welt kam. Dann war er tot. Innerhalb von ein paar Minuten wurde die Welt von Ma und mir auf den Kopf gestellt. Ich verdanke ihm doch alles. Ihm und Ma. Alles was ich bin und alles, was ich habe. Mein Leben hätte so anders verlaufen können und sie haben mir alles an die Hand gegeben, was ich bin. Und ich hab ihn enttäuscht, weil ich so abgestürzt bin. Ma so belastet habe, obwohl sie ihn genauso verloren hatte wie ich."

„Und er wäre so stolz auf dich. Ich hab ihn nicht gekannt, aber es reicht, was du erzählt hast, um das sagen zu können, Ace. Er wollte die Welt besser machen, deswegen war er Polizist, oder? Er hat dir alle Werkzeuge gegeben, um seinem Vorbild zu folgen. Und das tust du. Weil du meine Welt besser machst, ok? Weil du dich nicht abschrecken lässt, von meiner Auffassung der Dinge und der Meinung der anderen. Du machst genau das, was er dir beigebracht hat: Du läufst nicht mit dem Strom mit, sondern bemühst dich, dir deine eigene Meinung zu bilden. Deswegen wäre er so stolz auf dich", erwiderte sie und er hörte, dass ihre Stimme schwer war, von den Tränen, die sie seinetwegen vergoss.

Als ihm das bewusst wurde, schüttelte er automatisch den Kopf. Da weinte sie wegen ihm und um seinen Vater, obwohl ihr Leben um so viel schwieriger war als seins. Das berührte ihn mehr, als er in Worte fassen konnte. Schlagartig wurde er ruhiger, fühlte sich beschwichtigt, denn das war wie Balsam auf der Wunde, die er immer nur notdürftig geflickt hatte. Um seiner Mutter das Leben nicht schwerer zu machen. Um sich nicht damit befassen zu müssen. Doch jetzt merkte er, wie ihre Worte und Tränen ihn erfüllten und ihn auf eine Art und Weise trösteten, die er nicht für möglich gehalten hatte.

‚Heilende Fähigkeiten', dachte er automatisch und lehnte sich zurück, um ihr ins Gesicht sehen zu können.

Er umfasste es und murmelte: „Du erzählst mir all diese Widerlichkeiten, die Hartmut getan hat, ohne dass deine Augen auch nur feucht werden würden, und jetzt weinst du, Anna. Wenn du dich nur eine Sekunde aus meinen Augen sehen könntest. Dann würdest du erkennen, dass du falschliegst. Denn du bist eine Schönheit. Innen wie außen."

Er merkte, wie sie widersprechen wollte und bevor sie das tat, legte er den Mund auf ihren und küsste sie zärtlich. Er wollte nicht, dass sie dazu Stellung bezog. Er wollte nicht hören, dass sie ihm nicht zustimmte. Er wollte sie, erkannte er, als heißes Begehren ihn flutete. Doch sie hatten Kussverbot. Wobei er gerade dagegen verstieß.

****

Die Eindringlichkeit in seinem Kuss ließ sie erzittern. Obwohl seine Berührung zart war, spürte sie die Hitze, die er darunter verbarg. Das machte sie atemlos und ließ ihren Puls schlagartig in die Höhe schießen. Sie wusste, sie sollte ihn an das Kussverbot erinnern. Doch sie konnte nicht. Sie war diesem Kuss hilflos ausgeliefert. Seine Tränen hatten sie gerührt. Sein Geständnis, dass er dachte, er hätte seinen Vater enttäuscht, hatte sie fassungslos gemacht und ihren Widerstand geweckt. Sah er denn nicht, dass er dem Beispiel seines Vaters jeden Tag folgte, indem er zu ihr gestanden hatte? Sie so genommen hatte, wie sie war?

Auch wenn er manchmal nicht einverstanden war? Und trotzdem an seiner Meinung festhielt, sich nicht davon abbringen ließ? Wusste er nicht, was ihr das bedeutete? Dass da jemand war, der ihr offenbar bedingungslos zur Seite stand und sich ihr Geschwafel anhörte, ohne mit der Wimper zu zucken? Nur weil er wusste, dass sie die lang verborgenen Emotionen jetzt loswerden musste? Und das konnte, weil sie wusste, er würde sie nicht dafür verurteilen?

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now