32 - Harmonie

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Er beobachtete, wie seine Freundin ihr Brötchen aufschnitt, Butter drauf strich und Rührei darauf verteilte. Genauso wie seine Mutter. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so nervös gewesen war. Er hatte gedacht, Anna würde jeden Moment aufstehen und flüchten. Denn so hatte sie ausgesehen, als er sie gefragt hatte, was für eine Variante er machen sollte. Scheiße, hoffentlich schmeckten die. Er konnte nichts essen. Nicht, bevor das Urteil gefällt worden war. Er schluckte hart.

‚Bitte, bitte, lass es nicht komplett kacke schmecken', dachte er und sah, wie Anna in die Semmel biss.

Dass sie überhaupt frühstückte, war schon ein Highlight. Er hoffte, dass er ihr das vermitteln konnte, was er sich vorgestellt hatte. Er beobachtete nervös ihr Gesicht und las erst Erstaunen, dann Freude und dann Entrücktheit. War das gut? Verdammt, konnte sie nichts sagen? Nur damit er wusste, ob es verzehrbar war?

„Himmel, Flo! Die machst du jetzt jeden Samstag, ok? Die sind echt gut! Erstaunlich gut! Hätte ich dir gar nicht zugetraut!", rief seine Mutter aus und er nickte abwesend.

Alle seine Sinne waren bei Anna, die schweigend, völlig in sich gekehrt ihr Brötchen aß. Dann hob sie den Blick, den sie dabei auf ihren Teller gesenkt hatte, und sah ihn an. Das, was er darin las, erfüllte ihn mit so viel Glück, dass ihm kurz die Luft wegblieb. Offenbar war sein Plan aufgegangen und er hatte sie zumindest ein bisschen in die Zeit entführen können, wo Rührei nicht weniger bedeutete, als unbeschwerte Familienzeit. Er beobachtete, wie sie den Blick wieder auf den Teller senkte und weiter schweigend ihr Frühstück aß.

Er wusste, dass sie gerade nichts sagen konnte. Aber das war jetzt nicht mehr nötig. Sie hatte ihm schon alles erzählt. Erleichtert nahm er sich auch eine Semmel, schnitt sie auf und probierte sein eigenes Werk. Die waren echt nicht schlecht. Ein bisschen Salz hätte noch dran gekonnt. Aber Anna durfte nicht so salzig essen, also war es gut so, wie es war.

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Die nächsten Wochen flog Anna wie auf Wolken. Nach diesem Frühstück hatte sich alles geändert. Sie hatte den ersten Bissen gekostet und förmlich gefühlt, wie sie angekommen war. Sie hatte nicht sprechen können. Denn die Gefühlswelle, die sie geflutet hatte, war unfassbar gewesen. Rührung, weil er sie so ängstlich beobachtet hatte. Liebe, weil er sich das antat, um ihr zu zeigen, was sie ihm bedeutete. Freude, weil sie das offenbar wert war. Seligkeit, weil sie ein Stück einer glücklichen Zeit zurückbekommen hatte. Aber auch Melancholie, weil sie erkannte, wie sehr sie das vermisste. Waren die Rühreier perfekt gewesen? Nein. Aber sie hatten die Welt bedeutet. In diesem Moment, in dem sie so verletzt von ihrer Mutter gewesen war und so enttäuscht von ihrer Situation, waren sie schlicht Balsam für ihre Seele gewesen.

Sie hatten ihr gezeigt, dass sie nicht mehr alleine war. Dass sie nicht mehr alleine kämpfte. Das es einen besonderen Menschen gab, der zu ihr stand. Die Eierspeise und die Tatsache, dass er ihr damit was schenken wollte, hatten sie auf eine Art und Weise getröstet, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Sie hatten mehr bedeutet als Abertausende Beteuerungen. Sie hatten ihre Perspektive verschoben.

‚Liebe geht wohl doch durch den Magen', dachte sie gerade und warf Flo einen Blick zu, der neben ihr im Gras am See lag und kuschelte sich tiefer in seinen Arm, was ihn zum Lächeln brachte.

Ihre Gedanken wanderten wieder zurück, an den nächsten Tag, an dem sie nach Hause zurückgekehrt war. Sie war fast an der Entschuldigung für Hartmut erstickt. Aber sie hatte an Alina gedacht und an ihre Mutter. Waren die immer korrekt zu ihr? Nein. Aber sie liebte sie. Trotz der Probleme, der Verletzungen und des Unmutes, der zwischen ihnen oft herrschte, so waren sie doch ihre Familie. Außerdem hatte Florian neben ihr gestanden und hatte seine Finger mit ihren verschränkt. Sie wusste, dass er nicht verstand, warum sie das getan hatte. Wieso sie nicht für ihr Recht gekämpft hatte. Aber er war da gewesen. Hatte ihr mit seiner bloßen Anwesenheit die Kraft gegeben, die Demütigung zu ertragen.

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now