10 - Kontraste

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Als Anna ein paar Tage später im Bett lag, war ihr Kopf übervoll. Die Worte, die Florian an diesem Tag geäußert hatte, waren ihr nahegegangen. Mehr als sie gezeigt hatte. Sie hatte das schon lange nicht mehr erlebt. Und genau das war gefährlich. Schon einmal hatte sie sich so gefühlt, wie in seiner Gegenwart: wie ein Mensch. Er nahm sie ernst und sah offenbar nicht nur ihre Hülle. Er nahm sie als komplettes Individuum an, so wie es schien.

Sie hatte erkannt, dass auch sie Vorurteile gehabt hatte. Ihm gegenüber. Denn sie hatte gedacht, er würde sie genauso verurteilen, wie alle anderen. Doch das war nicht der Fall. Sie hatte gemeint, er beteilige sich nicht an den Hänseleien, weil er es nicht nötig hatte, sich zu profilieren. Doch der wahre Grund war viel schöner: Er sah kein Motiv dafür. Was sie verstanden hatte, als sie seine Mutter kennengelernt hatte.

Wow, was für eine Frau. Sie hatte ihr freundlich die Hand hingestreckt und gemeint, sie wolle niemals hören, dass sie Frau Gruber zu ihr sage. Sie sei Gretel. Eigentlich Margarete, aber das mochte sie auch nicht. Und dann hatte diese gesagt, dass sie hübsch wäre, was für ein freundliches Gesicht sie habe. Allerdings nicht zu ihr. Zu Florian. Sie hatte es durch Zufall mitbekommen, als sie vom Klo zurückkam. Das war vor dem etwas peinlichen Moment gewesen. Denn als er gesagt hatte, sie würden sich jetzt in sein Zimmer zurückziehen, hatte Gretel ihren Sohn gefoppt und gemeint, sie sollen auf ‚safen Sex' achten. Sie sei zu jung, um Großmutter zu werden. Sie selbst war knallrot angelaufen, während Florians Adamsapfel nervös auf und abgesprungen war und er meinte, dass sie ja nur Projektpartner wären, und da gäbe es keinen Grund zur Beunruhigung. Gretel hatte nur gelacht und gemeint, sie hätte früher auch nur Hausaufgaben gemacht.

Daraufhin hatte Flo gerufen: „Boah, Ma. Das sind Infos, die will ich gar nicht haben, ok? Wir gehen jetzt hoch. Zum Hausaufgaben machen. Also wirklich!"

Da hatte sie lachen müssen und ihn beneidet. In jeder Sekunde, die sie die beiden hatte beobachten dürfen, war ihr klargeworden, welche großen Stücke sie aufeinander hielten. Und sie hatte sich gewünscht, dass sie das hätte auch sagen können. Diese Woche war ihre Mutter zwar zu Hause, weil sie Frühschicht hatte, aber ihre Mama war immer im Stress und stand unter Druck. Sie hatte keine Zeit für die Belange ihrer Töchter. Leider. Dafür riss sich jedoch Hartmut zusammen, wenn sie da war und er war zumindest nicht so gehässig. Das war wenigstens etwas. Obwohl sie in dieser Woche nicht so viel von zuhause mitbekommen hatte. Und das war wunderschön gewesen. Alina trieb sich ja auch immer herum und sie saß sonst zu Hause fest.

Sie hatte seit langem Mal wieder das Gefühl gehabt, atmen zu können. Sie fühlte sich in Florians Gegenwart wohl. Zu wohl wahrscheinlich. Aber sie konnte gut mit ihm reden. Mehr als sonst und offener als sonst. Er verurteilte sie nicht. Er hörte sich ihr Gequatsche an und sie sich seins. So wie es in einer Freundschaft sein sollte. Moment. Freundschaft? Hatte sie das gerade gedacht? Sie waren keine Freunde! PROJEKTPARTNER! Das waren sie.

‚Anna, pass auf!', wies sie sich zum wiederholten Male zurecht und seufzte.

Sie hatte sich jeden Tag mehr auf die Stunden mit Florian gefreut. Sie hatte ihn zum Training begleitet und hatte ihn in Action gesehen. Das war schon Hammer gewesen und sie hatte bemerkt, wie sein Blick immer wieder zu ihr geflogen war. Dann hatte er gelächelt. Das war nicht gut. Also doch. Das war gut. Aber eben auch nicht. Sie war verwirrt. Die restliche Woche waren sie einfach durch die Stadt spaziert und gingen irgendwann zu ihm. Nach dem Essen hatten sie immer Hausi gemacht und dazwischen geredet. Er hatte tolle Ansichten vom Leben. Auch die hatte sie ihm ehrlicherweise nicht zugetraut. Er kam ihr näher, als sie das geplant hatte. Aber es fühlte sich toll an. Irgendwie. Und auf der anderen Seite machte es ihr Angst.

Genauso wie der morgige Tag. Denn da würden sie ins Freibad gehen. Sie hasste das. Sie hatte nicht ablehnen können, weil es ja seine Woche ist. Und sie ja in sein Leben eintauchen sollte. Und offenbar ging er gerne schwimmen. Also musste sie mit. Jippiehejo, Schweinebacke!

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now