29 - Nachhall

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Mitten in der Nacht wurde er wach, weil Anna sich aus dem Bett schob. Er fragte sich, was sie vorhatte, als er sie dabei beobachtete, wie sie in Klamotten schlüpfte und aus dem Raum huschte. Dann hörte er die Klospülung. Klar. Daran hätte er gleich dran denken können. Anna schlich zurück ins Zimmer und statt sofort ins Bett zu kriechen, trat sie durch die weit offenstehende Balkontür. Er runzelte die Stirn. Was war da los? Leise stand er auf, schlüpfte in Boxershorts und lehnte sich in den Durchbruch zum Balkon, weil er sie nicht unbedingt erschrecken wollte.

Sie saß mit geschlossenen Augen auf einem der Stühle und hörte offenbar Musik. Irgendwas Trauriges, so viel erkannte er. Was ging in ihr vor? Sie wirkte verloren, irgendwie. So, dass ihm eng in der Brust wurde und es ihn nicht mehr auf seinem Beobachtungsposten hielt. Er trat zu ihr, ging vor ihr in die Hocke und betrachtete ihr Gesicht, das im Mondschein einen sanften Schimmer hatte. Er traute sich nicht, sie zu berühren, denn sie wirkte so entrückt, dass er Angst hatte, sie würde vor Schreck vom Stuhl fallen. Also starrte er sie weiter an und dachte sich, wie schön sie doch war, ohne es zu wissen.

Plötzlich öffnete sie die Augen und sah direkt in seine, ehe sie die Kopfhörer absetzte, und flüsterte: „Hab ich dich geweckt?"

„Nein, nicht wirklich. Bist du ok, Anna?", erkundigte er sich und ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.

„Ja. Ich bin ok. So weit", gab sie schulterzuckend zu und er ließ sich auf den Boden fallen und zog sie auf seinen Schoß.

„Du wirkst traurig", gestand er und sie sah ihn lange an, ehe sie nickte.

„Vielleicht ein bisschen. Ich hab nicht mit solchen Turbulenzen gerechnet, das ist alles. Hartmut hat mich kalt erwischt und ohne dich, würde ich nicht mal wissen, wo ich schlafen soll. Aber das ist keine Dauerlösung und ich muss mir was einfallen lassen", überlegte sie und er drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.

„Mir ist unwohl bei dem Gedanken, dass du zurückgehst...", erklärte er und sie barg den Kopf an seiner Schulter.

„So weit sind wir ja nicht. Bis dato bin ich ausgelagert. Ich weiß, dass Mama anruft und mich bittet zurückzugehen. Das werd ich tun. Weil ich im Moment keine Alternative hab", erklärte sie, unterbrach sich und legte den Finger auf seinen Mund.

Sie merkte offenbar, dass er widersprechen wollte und hauchte: „Nein. Ich niste mich nicht bei dir ein. Dafür sind wir zu frisch zusammen und das will ich auch dir und deiner Ma nicht antun. Ich bin auch kein Sozialfall, ok? Ich habe ein Zuhause, wenn es auch nicht besonders lockend ist. Jetzt noch weniger, weil er alles in Augenschein genommen hat, was mein Leben so ausmacht. Trotzdem. Da gehöre ich hin. Zumindest erstmal noch. Aber sobald ich dieses bekackte Abi hab, such ich mir nicht nur eine Lehrstelle, sondern auch eine Wohnung. Dann geht es nicht mehr. Bis dahin halte ich einfach noch durch..."

„Man sollte nicht durchhalten müssen, wenn es ums Zuhause geht, Anna. Das hört sich an wie überleben, aber nicht wie leben...", stellte er fest und sie zuckte mit den Schultern.

„Mag sein. Ich überlebe schon ziemlich lang, Ace. Ist es ideal? Nein. Aber ich halte das aus. Vielleicht darf ich ja zwischendurch mal für ein Wochenende bei dir unterkriechen. Das wäre dann schon besser, als es vorher war. Das wäre schon ein Gewinn, auch wenn es dich noch gefährlicher machen würde...", überlegte sie laut und er runzelte die Stirn.

„Was meinst du damit? Ich wäre gefährlich?", fragte er und registrierte, wie sie ihn erstaunt ansah.

Dann zuckte sie mit den Achseln und meinte: „Du bist gefährlich, weil du Hoffnung weckst und Träume. Beides hat in meinem Leben keinen Platz."

„Das hört sich verdammt niederschmetternd und zynisch an", stellte er fest und Anna zuckte mit den Schultern.

„Manchmal. Meistens ist das ok. Schützt einen davor zugrunde zu gehen. Ist auch nicht zynisch gemeint. Ist eher realistisch. Für mich jedenfalls", erklärte sie und er versuchte, ihr zu folgen.

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now