11 - Missverständnisse

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„Was soll das heißen, Florian?", fragte sie ihn und er zuckte mit den Schultern.

„Nichts Besonderes, Anna. Ist schon gut", erklärte er und ging um sie herum.

Wieder starrte sie ihm stirnrunzelnd hinterher. Hä? War er jetzt sauer auf SIE? Wirklich? Sie kapierte gerade gar nichts mehr. Sie folgte ihm und sah, dass er sein Fahrrad aufsperrte, die Umhängetasche einmal quer über seinen Oberkörper schwang und aufs Rad stieg, jedoch auf sie wartete, bis sie ebenfalls so weit war. Doch sie ließ sich absichtlich Zeit. Sie musste kurz ihre Gedanken sortieren. Sie warf ihm einen Seitenblick zu und sah, dass er ein absolutes Pokerface zur Schau trug. Sie konnte nichts ablesen.

„Wieso bist du sauer auf mich?", erkundigte sie sich, ehe sie sich bremsen konnte und jetzt zeigte sich für eine Millisekunde Unmut auf seinem Gesicht.

„Ich bin nicht auf dich sauer. Ich bin generell wütend. Obwohl nein, eigentlich stimmt das nicht. Ich bin auch auf dich sauer", erklärte er und sie starrte ihn an.

„Mehr Kontext?", bat sie leise und er seufzte.

„Ich bin sauer, dass diese Idioten dich dafür büßen lassen, dass ich dich gezwungen habe, erstens mit mir das Projekt zu machen und zweitens, neben mir zu sitzen. Ich bin wütend, weil du das Gefasel einfach hinnimmst und nicht sagst, dass es dir stinkt. Und ich bin stinkig, weil es in dir offenbar den Wunsch weckt, nicht mehr leben zu wollen. Aber wir schweigen uns darüber aus, weil du dafür einen Seelenstriptease hinlegen müsstest und du ja so tun willst, als ließe dich alles kalt. Was nicht der Fall ist, denn du hast in der Pause geweint. Das hab ich gesehen. Ich bin nicht blind. Das stinkt mir. Dass sie dich zum Weinen bringen und ich nichts dagegen tun kann. Keine Ahnung. Das Gefasel macht mich so aggro, weil du es einfach nicht verdient hast, ok? Ich würde Johann am liebsten eine Abreibung verpassen, weil er sein Maul nicht halten kann. Er kann seine Meinung ja haben, aber er soll sie gefälligst für sich behalten. Und nicht auf irgendwas herumreiten in dem Wissen, dass es dich verletzt. Denn dass du verletzt wirst, das kotzt mich am meisten an, ok?", stellte er scharf fest und sie nickte langsam.

„Ich habe nicht den Wunsch zu sterben, oder so. Ich wünschte eher, ich wäre unsichtbar, verstehst du? So lege ich das Lied aus. Also meistens. Manchmal auch nicht. Und heute eher nicht, das gebe ich zu. Ich kann verstehen, dass du nicht nachvollziehen kannst, wieso ich mich nicht wehre. Ich sage dir dazu Folgendes: Es würde nichts ändern. Sie würden sich daran ergötzen, dass ich die Fassung verliere. Zumindest war das früher so. DA hab ich mich noch gewehrt. Brachte nichts. Außer noch mehr Häme. Egal. Ja, es verletzt mich, wenn jemand sich ein Urteil über mich erlaubt, ohne mich zu kennen, oder wenn ich ... keine Ahnung ... immer auf mein Gewicht reduziert werde. Aber so ist es einfach. Ich kann das ab. Meistens. Zumindest besser als heute. Hab ich bei meinem Seelenstriptease was vergessen?", fragte sie und sah, wie er sich zusammenriss, nicht zu grinsen.

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Er musste sich bemühen, nicht loszulachen. Das nannte sie Seelenstriptease? Sie hatte nur seine Äußerungen beantwortet. Aber sie hatte sich Mühe gegeben, das musste er ihr zugutehalten. Außerdem hatte sie ihn beruhigen wollen, erkannte er und wurde ernst.

„Nein. Trotzdem. Ich mag es nicht, dass sie dich zum Weinen bringen, aber heute haben sie es geschafft und das macht mich fertig, Anna. Weil das scheiße ist und sie es unter anderem wegen mir tun. Wegen meiner Entscheidungen, ok? Und weil du sonst nie weinst, nicht mal, als sie deine Klamotten zerstört haben und ach ich weiß auch nicht...", gab er zu und sie schaute ihn lange an.

„Normalerweise heule ich auch nicht. Und wenn ich daran ersticke. Aber ich heule nicht. Nie. Weil ich ihnen den Triumph nicht gönne und sie es nicht wert sind. Das weiß ich. Und normalerweise komme ich klar. Heute ... keine Ahnung, da ging es plötzlich nicht mehr. Aber ich hab nur ein paar Tränchen verdrückt. Mach dir einfach keinen Kopf deswegen. Ich überlebe es. Hab schon mehr überlebt und morgen sieht es wieder anders aus. Denn jetzt muss ich zwei Tage nicht zur Schule und dann sind bald himmlische sechs Wochen Ferien, was heißt, ich muss keinem von ihnen unter die Augen treten. Das macht alles besser. Im Moment. Na ja. Egal. Meinst du, die anderen haben auch gemerkt, dass ich geheult habe? Hoffentlich nicht, sonst schießen sie sich darauf ein...", erklärte sie leise und er stutzte.

Mein Name ist dick und hässlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt