7 - Ärger

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Die nächsten Tage verbrachte er mit Anna jede freie Minute. In den Pausen saß er neben ihr, sprach mit ihr oder beobachtete sie, wie sie in der Welt der Musik versank. Dann hörte sie laut Musik über ihre Kopfhörer, während er sein Essen vertilgte. Aber sie aß nie. Er begann die Zeit mit ihr von Minute zu Minute mehr zu genießen, denn eins war ihm klargeworden: In diesem Mädchen steckte mehr, als er am Anfang geahnt hatte, oder sie es sich selbst zubilligen würde.

Nach dem Unterricht streiften sie meistens noch ein bisschen durch die Stadt oder setzten sich in einen Park, um zu reden, bevor sie dann mit dem Rad zu ihr fuhren. Denn auch er kam jetzt mit dem Fahrrad zur Schule. Sie sollte wegen ihm nicht ein weiteres Mal auf ihr Abendessen verzichten müssen. Ihr Zuhause war der Hammer. Nicht im positiven Sinne. Er fragte sich immer, wenn er dort war, wie Anna das aushielt. Denn zu jeder Zeit lag eine unterschwellige Abneigung gegen sie und ihre Schwester in der Luft.

Die Abendessen dort waren so anders, als er sie von daheim kannte. Bei Anna wurde nicht wohlwollend nach dem Tag des anderen gefragt, da wurde nicht beratschlagt, getröstet oder gelacht. Da wurde still Nahrung aufgenommen, einzig unterbrochen von Hartmuts Gehässigkeiten, die ihn wiederholt schockierten. So sagte der Anna, dass sie zu viel Belag auf ihr Brot legte, sie sei doch schon fett genug oder zog Alina auf, dass die dumm sei, wie zwei Meter Feldweg. Oder er meckerte, weil es ihm nicht sauber genug war. Scheiße, in diesem Haus fragte man sich, ob dort überhaupt jemand lebte, denn alles lag akkurat da, wo es hingehörte, und Anna war irgendwie ständig dabei, ihre Spuren zu beseitigen. Offenbar nicht pedantisch genug, denn immer wieder fand sie Klebezettel, auf denen nur ein Wort stand: Dreck.

Anna ließ sich nie darüber aus. Sie schluckte die Beleidigungen und Angriffe still. Doch sie wurde immer kleiner, fiel ihm auf. Je länger ein Tag ging und je mehr sie einsteckte, umso mehr sank sie in sich zusammen. Einzig in ihrem Zimmer schien sie etwas aufatmen zu können. Da war sie eine andere Anna. Die kannte er auch von ihren Touren durch die Stadt. Sie war offener. Kein aufgeschlagenes Buch, aus dem man mühelos lesen konnte. Das nicht. Aber offener, irgendwie freier. Da blitzten ihre Augen ab und an amüsiert oder sie lachte über einen Scherz von ihm.

Sie hatte ein schönes Lachen. Er mochte den Klang. Und immer öfter durfte er es hören. Manchmal völlig unvermittelt. Dann setzte sein Herz einen Schlag aus und er erstarrte. Schon komisch. Sie wirkte in diesen Momenten so anders. Am Wochenende arbeitete Anna und er war in der Zeit herumgestromert oder hatte trainiert. Nach ihrer Schicht hatte er sie abgeholt und sie waren wieder durch die Stadt spaziert. Er merkte, dass sie mittlerweile lächelte, wenn er sie morgens vor der Schule grüßte. Aber innerhalb des Schulgebäudes war sie wieder anders. Komplett verschlossen. In sich versunken. Die Neckereien hatten abgenommen, dennoch war sie immer misstrauisch und auf Habachtstellung.

Saskia war die Schlimmste, war ihm aufgefallen. Sie ließ sich jeden Tag aufs Neue Dinge einfallen, die an Bösartig- und Gehässigkeit kaum zu übertreffen waren. Doch Anna hielt den Kopf geduckt und biss sich wortlos durch. Seit er neben ihr saß, bekam er mit, dass die Bemerkungen nicht so spurlos an Anna vorbeigingen, wie er gedacht hatte. Denn im Laufe des Tages wurde sie auch in der Schule immer kleiner, stiller, nachdenklicher. Aber er begriff nicht, wieso Anna sich nicht wehrte. Wieso sagte sie Saskia nicht einfach, dass sie damit aufhören sollte? Er überlegte, ob er das kommentieren sollte, aber er entschied sich dagegen. Das war Annas Angelegenheit und er wollte nicht übergriffig sein. Er glaubte ohnehin nicht, dass sie es ihm gedankt hätte.

Heute war Montag und seine Woche brach an. Er war gespannt, wie sie auf sein Leben reagierte. Sie war heute verhaltener. Als hätte sie vor irgendwas Angst. Er konnte sich nicht erklären, was es war. Er hatte seine Ma schon vorbereitet, dass er diese Woche täglich mit Anna aufkreuzen würde, und die hatte gelacht. So war seine Ma. Sie hatte nie ein Problem mit solchen Dingen gehabt, auch nicht, als sein Pa noch lebte. Aber seitdem noch weniger.

Mein Name ist dick und hässlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt