41 - Konsequenzen

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Währenddessen starrte Anna gedankenverloren aus dem Fenster des Bahnwagons. Fast eine Woche. So lange hatte es gedauert, bis es aufgefallen war. So wichtig war sie. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche, die sie in den Händen hielt. Sie musste bald zurück. Aber sie war noch nicht bereit dazu. Vielleicht sollte sie ihrem alten Leben den Rücken kehren. Wer vermisste sie schon? Offenbar niemand, denn sonst wäre der Anruf schon früher gekommen. Es hatte gutgetan, mal wieder Papa und Hanna zu sehen. Wobei die bohrenden Blicke der beiden fast mehr gewesen waren, als sie ertragen konnte. Deswegen hatte sie es auch nicht länger bei ihm ausgehalten.

Sie hatte bleiben wollen, aber die offensichtlichen, stillen Fragen hatte sie nicht beantworten wollen. Außerdem war es in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung auch beengt. Sie hatte die letzten beiden Nächte auf der Couch geschlafen, froh, mal wieder in einem bekannten Umfeld zu übernachten. Deswegen war sie zu ihrem Papa gefahren. Denn die Tage zuvor war sie im Ausland gewesen und hatte das in die Tat umgesetzt, was sie ohnehin für die Sommerferien geplant gehabt hatte. Vor Flo. Nun, jetzt war nach Florian und die Episode hatte sie nur in ihrem Vorhaben bestätigt. Sie würde das durchziehen. Ohne Rücksicht auf Verluste.

****

Vier Tage später ging Anna allein durch die Straßen der Stadt, die ein paar Jahre ihr Zuhause gewesen war. Irgendwie hielt sie es nicht lang irgendwo aus. Wie ein Blatt im Wind taumelte sie von einem Ort zum anderen und versuchte herauszufinden, wohin sie gehörte. Doch immer wieder sagte ihr bescheuertes, verräterisches Herz, dass sie längst wüsste, wohin sie gehörte. Aber da gehörte sie eben nicht hin. Das war nur eine Illusion gewesen. Nur ein Traum, der auf falschen Tatsachen beruht hatte.

Scheiße, ihr war schon wieder schlecht. Ob das am Alk lag, den sie heute in Strömen konsumiert hatte? So wie eigentlich jeden Tag, um ihre Gedanken zum Stillstand zu bringen? Sie konnte kaum gerade gehen. Aber ins Hostel würde sie es noch schaffen. Dann würde sie sich ins Bett legen, wahrscheinlich aufspringen und kotzen, mit Herzrasen wieder zurück kriechen und irgendwann heulend einschlafen. Dann würde sie irgendwann gegen Mittag wach werden und still an die Decke starren, bis sie Appetit bekam.

Den würde sie stillen, indem sie einen dieser Eiweißshakes trank, und dann würde sie wieder ins Bett gehen, bis der Hunger so stark war, dass sie sich aufmachte und irgendwas holte, das sie im Hostel aß. Dann würde sie wieder überlegen, bis sie beschloss, dass ihr Kopf endlich seine Fresse halten sollte. Daraufhin würde sie das Zimmer verlassen und in eine Bar gehen, um sich zu betrinken. Also so wie jeden Tag, seit sie von ihrem Vater weg war. Doch die Leere blieb. Egal, wie viel sie trank. Sie hörte die Kirchenturmuhr Mitternacht schlagen und merkte, wie ihr die Tränen kamen.

„Happy Birthday, Anna", flüsterte sie und ließ sich auf der nächsten Bank nieder, weil sie nicht mehr fähig war, zu sehen, was sich vor ihr befand, so heftig weinte sie.

Dieser Tag hätte etwas Besonderes werden sollen. Stattdessen saß sie hier allein in einer Stadt, die nur schlechte Erinnerungen für sie bereithielt. Sie heulte sich die Augen aus dem Kopf, weil der Mensch, nach dem sie sich am meisten sehnte, sie von vorne bis hinten belogen hatte. Unwirsch wischte sie sich die Tränen vom Gesicht und stand auf. Ein paar Drinks gingen noch.

****

Ein paar Stunden später drehte Florian am Rad. Immer noch nichts von Anna. Alina hatte keine Ahnung, wo sie war. Er sollte die Polizei einschalten, oder? Sie vermisst melden? Aber würden die was tun? Scheiße, sie hatte heute Geburtstag und keiner wusste, wo sie war oder wie es ihr ging. Denn ihr Handy war aus. Seit Alina sie angerufen hatte und zur Rede gestellt hatte, war es aus.

„Anna, ich bin's schon wieder. Scheiße, wieso machst du dein Kacktelefon nicht an! Ich kann dir noch nicht mal zu deinem 18. Geburtstag gratulieren, ohne auf diese beschissene Mailbox zu sprechen. Wo bist du? Bitte melde dich. Ich mache mir unwahrscheinlich Sorgen um dich. Ich will das klären, Anna. Das mit uns ... Scheiße! Fuck! Dieses Kackding! Ist die Sprechzeit schon wieder rum! Ich dreh durch!", rief er aus und seine Mutter sah ihn nur an.

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now