6 - Verwunderung

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Als sie an der Schule ankam, wartete Florian auf sie. Zumindest glaubte sie das, denn als er sie gesehen hatte, war ein Lächeln über seine Züge gehuscht. Sie wäre fast vom Rad gefallen. Er hatte sie gegrüßt und sie hatte nur genickt. Sie war ohnehin ein Morgenmuffel und das hatte sie nach dem Streit am Morgen überfordert. Sie hatte ihn etwas rüde gefragt, was das sollte und er hatte mit den Schultern gezuckt und sie daran erinnert, dass er ihr Schatten wäre. Das allein hätte sie gerade so überstanden. Doch das war ja noch nicht alles gewesen. Als sie die Klasse betreten hatten, hatte er sich neben ihr auf den Stuhl an ihrer Bank gesetzt. Einfach so. Sie hatte ihn verwirrt angestarrt, genauso wie der Rest der Klasse, das hatte sie gemerkt.

„Da ist doch noch frei, oder?", hatte er festgestellt und sie hatte nur nicken können.

Was bezweckte er denn damit? Sie hatte keine Ahnung. Auch die Lehrer hatten gestutzt. Jeder Lehrer in jeder Stunde. Nur Groschke hatte gegrinst und gemeint, da nehme jemand sein Vortrag wirklich ernst, wie es aussehe. Aha.

Nur hatte keiner damit gerechnet, dass von hinten Sprüche kamen wie: „Hey Flo, bekommst du da nicht Platzangst?"

Oder: „Pass auf, Flo. Fettflecken kriegst du nie mehr raus. Deine arme Mutter muss das waschen."

Beziehungsweise: „Flo? Schluckt Fett eigentlich Geräusche? Kannst du uns noch hören?"

Sie konnte kaum mehr atmen. Natürlich zog das die Aufmerksamkeit der anderen auf sie beide. Sie wollte nur noch raus. Sie hatte gemeint, wenigstens in der Pause etwas durchatmen zu können, doch da war er ihr auch schweigend gefolgt und hatte versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen. Alle starrten sie an. Sie wollte doch nur verschwinden. Unsichtbar sein. Vor allem heute, wo die Hose spannte. Dank ihres nächtlichen Schlemmens. Sie fühlte sich kacke. Die zweite Pause hatte sie auf dem Klo verbracht. Da war er ihr nicht gefolgt.

Aber sie hatte das Gefühl gehabt, zu ersticken. Flo hatte die Kommentare mit einem Schulterzucken abgetan oder einen blöden Spruch zurückgeworfen. Sie hatte sterben wollen. Sie war in ihrem Stuhl immer kleiner geworden. Was offenbar auch Florian gemerkt hatte, denn irgendwann hatte sein Blick sie wiederholt gestreift und er hatte die Stirn gerunzelt. Das hatte ihr zusätzlich zugesetzt. Sie hatte die Fragen, die er hatte, förmlich von seinem Gesicht ablesen können. Außerdem konnte sie sich nicht konzentrieren, wenn sein Arm wieder unabsichtlich gegen ihren stieß. Ihn störte das aber nicht. Glaubte sie. Denn er hatte ihr nur entschuldigende Blicke zugeworfen und sie war immer weiter abgerückt. Soweit es ging.

****

Was war mit Anna los? Sie wirkte total gehetzt und traurig. Lag das an den Sprüchen der anderen, die wieder nur Blödsinn absonderten, oder an ihm? Er hatte gedacht, sie hätten gestern eine Basis gefunden, auf die sie aufbauen konnten. Aber sie war abweisend oder verunsichert. Sie starrte ihn immer wieder an, als wäre er nicht da, wo er hingehört. Und vielleicht hatte sie Recht damit, doch er wollte sie doch kennenlernen, oder?

Er hatte das Gefühl, Anna hatte erneut komplett zugemacht. Sie saß neben ihm und ihr Fuß wippte ungeduldig und sie sah alle paar Minuten auf die Uhr. Wollte sie so dringend raus hier? In der zweiten Pause war sie so eilig aus dem Raum geflüchtet, dass er gar nichts hatte zu ihr sagen können und gefunden hatte er sie auch nicht. Denn diesmal hatte er nach ihr Ausschau gehalten. Sie war wie vom Erdboden verschluckt gewesen und hatte sich pünktlich zum Läuten der Schulglocke nach der Pause wieder neben ihm niedergelassen. Ohne ein Wort an ihn zu richten oder ihn anzusehen. Hatte er etwas falsch gemacht?

Gleich war Mittagspause, da würde er sie fragen. Sie war irgendwie unter Strom, das merkte er. Er beugte sich gerade zu ihr und sie drehte ihm erschrocken ihr Gesicht zu, als der Zettel auf seinem Arm landete. Er runzelte die Stirn und faltete ihn auf.

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now