5 - Erste Schritte

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„Na ja, ein bisschen was sollte ich schon erfahren, oder? Ich meine, wir sind jetzt seit knapp vier Stunden unterwegs und alles, was ich weiß ist, dass du Anna heißt, in einem Doppelhaus mit Mutter, Stiefvater, Schwester und Hund im Keller wohnst. Du isst nicht in der Öffentlichkeit, du gehst nebenher arbeiten, du kapselst dich ab in der Schule. Und sonst nicht viel. Du magst Musik, liest, fährst Fahrrad und hältst dich nicht für sportlich talentiert. Du bist höflich, denn du entschuldigst dich sogar, wenn du jemanden zusammenfaltest. Ansonsten bist du wortkarg und kannst einem nicht ins Gesicht sehen, wenn du mit jemanden sprichst. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ach ja und dann weiß ich noch, dass du deine Schwester magst und dein Stiefvater ein Arsch ist – sorry...", er unterbrach sich schlagartig, als Anna anfing zu lachen.

Das klang schön. Irgendwie. Außerdem brachte es ihre Augen zum Leuchten. Auch irgendwie schön. Plötzlich wirkte sie nicht mehr so steif und verschüchtert, sondern irgendwie jünger. Stand ihr zu lachen, dachte er automatisch und merkte, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen. Hatte er sie irgendwann vorher schon mal lächeln oder lachen gesehen?

Als sie offenbar wieder Luft bekam, wischte sie sich die Lachtränen von den Wangen und meinte: „Treffend formuliert. Sehr treffend. Egal. Also, ok. Da hat sich ein Fehler eingeschlichen, trotzdem. Ich kapsel mich nicht ab. Ich flüchte. Weil ... na ja. Ist einfacher. Ansonsten ist das ja schon mehr, als du heute Mittag wusstest. Ich sehe den Menschen nicht in die Augen, wenn ich mit ihnen spreche, damit ich ihre Reaktion auf mich nicht sehen muss. Ich kenn sie schon. Ich rede nicht viel, weil keiner fragt. Ich dränge mich nicht auf. Hab ich aufgegeben. Ich lebe seit knapp 18 Jahren mit mir und weiß, dass die Menschen mich ansehen und das Interesse schon verloren haben, ehe ich den Mund aufgemacht habe. Weil sie sehen, wie ich aussehe. Das reicht dann auch schon. Wie im Café. Die Frau kennt mich gar nicht, wusste aber, dass ich mich gehenlasse. Weil jemand wie ich, ja automatisch fett, gefräßig und faul ist und stinkt. Die Hülle sagt alles aus. Wieso sollte ich mich aufreiben, wenn es nichts ändert? Wenn du ganz ehrlich bist, hättest du auch kein Interesse gezeigt, wenn wir nicht dieses Projekt hätten. Aber das ist ok. Ich kenn das."

Jetzt fiel ihm, wie im Café, die Klappe herunter. Er ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen und erneut stimmte er ihr zu. Genau diese Vorurteile hörte man immer wieder, wenn man über Übergewichtige sprach. Er wollte etwas sagen, ihr widersprechen, aber dann würde er lügen. Auch er hatte das eine oder andere Vorurteil. Zumindest für träge hatte er Anna gehalten. Es hatte ihn ehrlicherweise erstaunt, dass sie, ohne ins Schwitzen zu kommen, durch die Stadt rannte. Nicht mal so langsam. Er war größer und hatte damit eine andere Schrittweite, aber sie war schon zügig gewesen, ohne sofort aus der Puste zu sein.

Er merkte, wie sie ihn musterte und machte den Mund auf, doch sie schüttelte den Kopf und winkte ab: „Lass es. Du musst dich nicht rechtfertigen, denn das ist einfach so. Wie gesagt, ich kenn das. War ja nie anders. Aber du machst wenigstens keine blöden Sprüche und denkst dir deinen Teil nur. Offensichtlich. Egal."

„Das ist dein Lieblingswort, oder?", fragte er und als sie ihn verständnislos ansah, fügte er an: „Egal?"

Jetzt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie antwortete: „Kann sein. Wenn es zu sehr in die Tiefe geht, brems ich mich damit. Egal."

Jetzt musste er lachen und sah, wie Annas Augen erst groß wurden und dann amüsiert funkelten. Das hatte echt was, dachte er. Und sie hatte ihm in den letzten Minuten mehr über sich verraten, als in den Stunden zuvor. Sie machten also doch Fortschritte.

„Darf ich dich was fragen?", wollte sie leise wissen, als er nicht mehr nach Luft japste und er nickte.

Sie starrte ihn länger an und erkundigte sich dann: „Wieso hast du keinen Rückzieher gemacht, als du das Thema erfahren hast und Groschke dich gefragt hat, ob du mich als Partnerin behalten willst?"

Mein Name ist dick und hässlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt