24 - Klartext

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Sie unterbrach sich, sah ihn hilflos an, als wolle sie sich versichern, dass er verstand, was sie ihm mitteilen wollte und das tat er. Jetzt begriff er, warum sie so verstört gewesen war.

Als er nickte, fuhr sie fort: „Als ich Alina und ihn dann streiten gehört und gesehen hab, dass er sie zu sich hingezogen hat und ihr eine knallen wollte, da hab ich nur noch rot gesehen. Da sind sämtliche Sicherungen durchgebrannt, glaub ich. Plötzlich waren all diese Dinge da, die ich so erfolgreich verdrängt hab, und meine größte Angst ist wie aus dem Nichts aufgetaucht. Mich fasst er ja nicht an, weil ich zu hässlich bin. Was ganz gut ist, in der Hinsicht. Aber, scheiße, Alina ist nicht hässlich, ok? Sie ist die mutige Schöne und ich bin bloß die verkackte vernünftige Kluge. Das sind unsere Rollen, das war immer so. Wenn innerhalb der Familie über uns gesprochen wurde, da war Lina die Schöne, an der ein Junge verloren gegangen ist, weil sie so waghalsig ist und ich bin die vernünftige, kluge Anna."

‚So langsam beginne ich zu verstehen, warum sie Alina immer deckt. Sie will nicht, dass sie in Hartmuts Fokus gerät', stellte er fest und hörte: „Also, wenn Alina die Schöne ist, dann würde er sie doch anfassen, oder? Da würde er sich nicht nur damit begnügen, sie mit Worten zu belästigen, oder? Was, wenn er das tut und sie schweigt genauso, weil sie sich genauso schämt wie ich? Das kam schlagartig hoch und bevor ich mich zusammenreißen konnte, hab ich ihm all die Widerwärtigkeiten an den Kopf geknallt, die ich so verdrängt hatte. Um da überhaupt leben zu können. Mir ist das heute erst wirklich bewusst geworden, wie viele Überlebensstrategien ich im Prinzip anwende, um es dort auszuhalten."

Erneut hielt sie inne und schüttelte den Kopf, ehe sie zugab: „Wie ausdauernd ich mir immer wieder gesagt hab, dass ich spinne. Dass ich überdramatisiere. Aber das ist es ja. Ich bin keine, die überdramatisiert. Das bin ich nicht. Ich bin diejenige, die es herunterspielt. Ich bin die, die beim Abendbrot sitzt und sich dabei denkt, das hast du dir gerade eingebildet. Er hat dich gerade nie und nimmer gefragt, ob du dich im Schritt berührst. Das würde er nicht. Das hast du dir bestimmt eingebildet. Weil das nicht so sein darf. Das geht ihn nichts an und weil er das weiß, hat er das nicht gefragt. So einfach ist das. Aber Tatsache ist, er hat mich das gefragt. Genauso wie er mich immer wieder so Sachen gefragt hat oder mir Tipps gegeben hat, wie ich meinen Intimbereich gut pflegen könnte und so. Als hätte ich dazu seine Tipps nötig, aber egal. Es geht ihn schlicht nichts an."

Sie seufzte so schwer, dass ihm die Kehle eng wurde, als sie flüsterte: „Aber jedes Mal hab ich so getan, als wäre das nicht passiert. Weil sowas nicht passiert, nicht mir, nicht in meinem Kosmos. Doch es hatte Auswirkungen, egal wie sehr ich es weggeschoben hab. Ich hab mich zu Hause nicht mehr sicher gefühlt. Allein das Erwähnen dieser Dinge hat es geschafft, dass ich mich nicht mehr sicher gefühlt hab. Am liebsten wäre ich abgehauen, weil es zu der Zeit ohnehin nur Streit gab."

Er sah, wie sie mit den Schultern zuckte und sie erklärte: „Ich hasse Streit. Er ist dramatisch und unproduktiv, weil Dinge gesagt werden, die man nicht so meint und außer verletzte Gefühle bleibt nichts übrig. Aber es gab nur Streit damals. Jeden Tag mussten wir uns vor der Treppe postieren, wenn Mama von der Arbeit gekommen ist, und er hat die lange Liste unserer Verfehlungen aufgezählt. Da war alles dabei von: Die können nicht mal die Schuhe vor dem Haus abstreifen, die sauen alles voll, sie haben keine Manieren, sie haben die Musik zu laut aufgedreht, mit den Türen geknallt, egal was."

Er schluckte hart, während sie sich hilflos übers Gesicht strich und anfügte: „Es war alles falsch. Und weil Anna ja Streit hasst, hat sie gelernt, dass es besser ist, unsichtbar zu sein. Sie hat versucht, all diesen Forderungen gerecht zu werden, weil Mama immer zwischen den Stühlen gesessen hat und nicht wusste, wem sie beipflichten soll. Wem sie beistehen soll. Und dann kam auch noch der Mist und ich wollte weg. Alles in mir drin hat geschrien, dass ich wegmuss. Zu Papa. Aber das konnte ich nicht. Weil Lina nie zu Papa gezogen wäre. Und ich konnte sie nicht alleinlassen, ich bin doch für sie verantwortlich. Jetzt noch mehr, weil Mama nicht mal mehr auf unserer Seite steht. Keine Ahnung."

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now