17 - Erkenntnis

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Eine einzelne Träne befreite sich aus ihrem Gefängnis und rollte über ihre Wange und er stand auf und wollte sie in seine Arme ziehen, doch sie schüttelte den Kopf. Sie senkte den Blick kurz zu Boden und als sie ihn wieder anhob, sah er die Enttäuschung und die Wut darin.

„Ich hab ihm gesagt, er müsse sich darüber keine Sorgen mehr machen, ich würde ihn von mir erlösen und bin gegangen. Hab so getan, als würde ich es nachvollziehen können. Aber das konnte ich nicht. Aber ich hatte ja noch meine Mädels, oder? Als das nächste Mal ein Joint herumgereicht wurde, sagte ich nicht mehr nein. Ich wurde zum ersten Mal high und plötzlich machte es mir nicht mehr so viel aus, dass der Junge, den ich zumindest geliebt habe, sich für mich geschämt hat. Ich steckte den Mädchen, das ich für die Party doch den Begleiter brauche, den sie für mich im Sinn gehabt hatten. Sie haben mich getröstet und so high wie ich war, hab ich ihnen alles erzählt. Ab dem Tag war ich entweder stoned oder besoffen, oder beides. Ich habe ihn nicht gebraucht. Ich war trotzdem jemand, auch ohne ihn, richtig? Zumindest wollte ich das mir und vor allem den anderen suggerieren. Ich ging zu der Party, zeigte, wie wenig es mir ausmachte, dass ich mit einem Fremden auf eine Knutschparty ging", erzählte sie und er sah sie lange an.

Er kannte sie inzwischen gut genug, dass er wusste, dass das gelogen gewesen war, was sich bestätigte, als sie erklärte: „ Aber dem war auch nicht so. Ich hab sie und vor allem mich selbst belogen. Das wurde mir allerdings erst am nächsten Morgen klar, als ich nackt neben dem Typen aufgewacht bin, der mein Begleiter war. Ich hatte keinen Plan, was am Vorabend passiert war, denn ich hatte mich schon im Vorfeld kräftig abgeschossen. Um den Mut zu haben, überhaupt da aufzutauchen. Denn ich bin ja etwas, für das man sich schämt. Der Typ hat - ich weiß seinen Namen nicht mehr so genau - mir dann auch offenbart, dass wir Sex hatten und dass es nett gewesen war, mal eine fette Kuh im Bett zu haben. Ich war so schockiert. Von mir. Von meinem Verhalten. Er erklärte mir freundlicherweise auch, dass er noch nie leichter 100 Euro verdient hat, denn ich war ja spitz wie Nachbars Lumpi. Die anderen haben ihn bezahlt, um mein Selbstwertgefühl aufzumöbeln, so hat er es mir gesagt. Ich hab das geglaubt. Na ja, ich wollte das glauben."

Florian hatte einen Knoten im Magen, denn er hatte genug von ihrem Alltag mitbekommen, um zu ahnen, was folgen würde und das bestätigte sich, als sie erklärte: „Doch natürlich hab ich mich getäuscht. Denn als ich am nächsten Tag in die Schule kam, lachten alle über mich. Die komplette Klasse. Denn meine ‚Freundinnen' hatten alles brühwarm herumerzählt. Dass ‚Flittchen Schwabbelbacke' wie ein Zäpfchen abgegangen war, weil sie es so nötig gehabt hat, nachdem ihr eigener Freund sich für sie schämt. Was ja verständlich sei, man müsse mich nur ansehen. Da hab ich ein paar Dinge beschlossen: Erstens würde nie wieder jemand sich wegen mir schämen müssen, auch ich nicht. Denn ich hab mich abgrundtief geschämt. Zweitens: Nie wieder würde ich zulassen, dass jemand so nah an mich heran kommt, dass er die Macht hat, mich zu verletzen."

Sie unterbrach sich, zuckte mit den Schultern und stellte fest: „Drittens: Ich wollte mich nie wieder so anbiedern, um gemocht zu werden, denn ich kämpfe ohnehin auf verlorenem Posten. Mein Name ist dick und hässlich und das wird sich nie ändern, egal, wie sehr ich es versuche. Und damit bin ich gut gefahren. Bis letzten Samstag. Seitdem komme ich nicht mehr klar. Genauso wenig, wie ich damals klarkam. Denn nach diesem Tag hab ich mich vergraben. Hatte einen Fressflash nach dem nächsten. Hab dann versucht, mich statt mit Drogen, mit Essen über Wasser zu halten, damit ich die Tage durchstehen konnte. Ist ja auch sowas wie ein Urinstinkt: Ein voller Bauch beruhigt. Weswegen man ja auch Babys an die Brust legt, wenn sie unruhig sind. Und scheiße: Eine fette Salamipizza beruhigt eben mehr als ein Salat mit Putenstreifen. Egal. Also hab ich mich zu Hause eingegraben."

Er starrte sie an und vor seinen Augen baute sich eine Anna auf, die zutiefst gedemütigt in ihrem Zimmer saß und die Hänseleien und Demütigungen im wahrsten Sinne in sich hineinfraß. Er hatte solches Mitleid mit ihr. Das war nicht nur hart. Das war schlimmer als alles, was er sich hätte vorstellen können. Er wollte Stellung beziehen, doch sie war offenbar noch nicht fertig.

Mein Name ist dick und hässlichWhere stories live. Discover now