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Triggerwarnung: Unfall/Tod

Taehyung

Während ich frische Sachen von Jungkook anzog, dachte ich ununterbrochen darüber nach, dass nun endlich der Zeitpunkt gekommen war, in dem ich diese unfassbar schwere Last loswerden würde.

Und es machte mir Angst.

In den letzten drei Jahren wurde mir immer wieder eingetrichtert, dass ich an allem Schuld gewesen war. So sehr, dass ich es teilweise selbst schon glaubte und ich hatte Angst davor, was Jungkook von mir denken würde, wenn er es erfuhr. Wenn er erkannte, wie feige und schwach ich eigentlich war und wie lange ich so erbärmlich gelebt hatte.

„Was geht in deinem hübschen Kopf vor?“, drang Jungkooks Stimmt mir urplötzlich ins Ohr und vor Schreck fielen mir beinahe die weichen Socken aus der Hand, die ich gerade anziehen wollte. „Oh mein Gott!“, stieß ich kurzatmig aus und legte meine Hand auf mein rasendes Herz. „Jungkook reicht völlig“, lachte der Dunkelhaarige und ich verdrehte bei diesem lahmen Spruch erstmal die Augen. Sowas konnte wirklich nur von ihm kommen. „Sehr witzig, ich lacht dann später. Wenn ich mich von meinem Herzinfarkt erholt habe“, meckerte ich halbherzig, denn Jungkook lächelte mich so herzerwärmend an, dass ich überhaupt nicht sauer sein konnte, selbst wenn ich gewollt hätte.

Wie er es am Morgen gemacht hatte, ging ich auf ihn zu und legte langsam meine Hand auf seine Wange. Mit dem Daumen strich ich immer wieder über die weiche Haut und auch wenn es dumm war: Ich prägte mir jeden seiner Gesichtszüge ein, falls er mich nach diesem Gespräch nicht mehr sehen wollen würde. Es machte mir sogar so eine Angst, dass ich die Augen zusammen kniff und ihn einfach küsste. Normalerweise war ich nicht so jemand, der diese Dinge von allein tat, aber irgendwie musste ich es in diesem Augenblick tun und glücklicherweise wich Jungkook nicht zurück.

Er umrahmte mein Gesicht mit seinen Händen und fing an, seine Lippen gegen meine zu bewegen. Nicht fordernd oder stürmisch, sondern ganz langsam und sanft. Mein Herz wollte sich überhaupt nicht mehr beruhigen und ich hatte Schwierigkeiten vernünftig zu atmen, aber das war mir völlig egal. Wenn es zum schlimmsten kommen sollte, musste ich wenigstens diese eine, schöne Erinnerung für mich haben, die mir dann niemand mehr nehmen könnte. „Tae?“, murmelte Jungkook auf einmal, aber ich wollte nicht aufhören, ihn zu küssen. Nicht nach so kurzer Zeit schon. Also drückte ich meine Lippen verzweifelt wieder auf seine und hielt den Jüngeren fest im Nacken. Jungkook jedoch, drückte mich von sich und sah... besorgt aus?

„Warum weinst du? Was ist los?“, fragte er dann auch und ich sah ihn irritiert an. Meine Hand legte sich auf meine Wange und tatsächlich, ich hatte angefangen zu weinen! Bemerkt hatte ich das nicht, denn meine Gedanken ließen mir überhaupt keine Möglichkeit dazu, irgendetwas wahrzunehmen, aber die Tränen liefen mir wahrhaftig über die Wangen. „Ich- Ich habe Angst, Jungkook. Angst davor, wie du über mich denken wirst, wenn du meine Geschichte kennst...“, kam leise aus mir und ich senkte meinen Blick beschämt auf den Boden.

„Hey, Sag' doch sowas nicht! Meine Gefü- ehm, meine Meinung über dich wird sich nicht ändern, okay? Was auch immer du mir erzählen willst, ich werde dich deshalb nicht weniger mögen!“ beteuerte er, drückte meinen Kopf wieder hoch und wischte meine Wangen mit seinen Daumen trocken. „Komm', wir gehen erstmal runter“, ließ Jungkook mich nicht weiter darüber nachdenken und nahm mich an die Hand, bevor wir gemeinsam die Treppen runter liefen. Meine Beine fühlten sich unglaublich schwer an und ich hatte das Gefühl, als wäre ich gerade auf dem Weg zur Richtbank gewesen. Und Jungkook war der Henker, der die Wahrheit wie eine Guillotine auf mich fallen ließ. Egal, was passieren sollte, sie wäre so oder so gefallen. Die Frage war nur, ob mein Kopf dabei in der Schlinge steckte oder nicht.

Im Wohnzimmer drückte der Jüngere mich auf die Couch und setzte sich vorsichtig neben mich. Er wollte gerade etwas sagen, aber ich stoppte ihn sofort. Seine Stimme zu hören, hätte mich in diesem Moment nur wieder einen Rückzieher machen lassen und das wollte ich vermeiden. Ich nahm seine Hand und sagte bloß: „Bitte, hör' mir einfach zu und halt' meine Hand“, woraufhin Jungkook zustimmend nickte und ich nach einem tiefen Atemzug mit geschlossenen Augen zu erzählen begann.

„Vor drei Jahren, kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag um genau zu sein, waren meine Mutter und ich mit dem Auto unterwegs. Mein Vater musste arbeiten, weshalb er nicht mitkommen konnte und deshalb sind wir beide alleine gefahren. Ich weiß noch, dass ich sie davor angebettelt hatte, mit mir in das riesige Einkaufszentrum zu fahren, weil ich unbedingt neue Schuhe haben wollte. Diese verdammten Schuhe...“, erzählte ich und drückte Jungkooks Hand unbewusst fester. „Ich habe darauf bestanden, dass wir über die Autobahn fahren, weil es einfach schneller ging, obwohl ich wusste, dass meine Mutter das nicht gern tat. Ich... Ich sagte immer wieder, dass es zu lange dauert und die Schuhe bald ausverkauft sein würden, wenn wir zu spät kamen. Wir fingen an uns zu streiten und weil ich irgendwann so bockig war, habe ich einfach die Musik laut aufgedreht. So laut, dass wir die Sirenen nicht gehört haben, die wohl hinter uns näher kamen...“

Wieder machte ich eine Pause, denn in meinem Hals hatte sich ein riesiger Kloß gebildet und die Tränen, die mir wieder in die Augen stiegen, ließen meine Sicht verschwimmen.

„Meine Mutter sah zu mir rüber und wollte mir über den Arm streichen, um mich zu beruhigen, aber ich stieß ihre Hand sauer weg, ich... Dann ging alles ganz schnell... Eomma hat für einen kurzen Moment nicht auf die Straße geachtet und nicht gesehen, dass die Autos vor uns eine Gasse gebildet hatten. Sie bremste und riss das Steuer nach links, aber...“, wurde meine Stimme immer dünner und meine Hände fingen an zu zittern. „...der Krankenwagen war so schnell und... raste direkt in uns rein. Ich hörte meine Mutter schreien. So laut... Unser Auto überschlug sich und als wir zum Stehen kamen, war es so unheimlich still. Ich hörte nur noch ein Piepen, sonst nichts. Es roch nach Qualm, aber ich wusste nicht, wo es herkam. Alles, was ich sehen konnte, war meine Mutter. Sie saß auf ihrem Sitz und ihr ganzes Gesicht war voller Blut... Jungkook, da war so viel Blut... So viel...“, schluchzte ich und der Jüngere drückte meine Hand, umschloss sie sogar mit der Anderen. „Es ist okay, Taehyung.“

„Nein, ist es nicht! Ich habe versucht, ihr zu helfen, aber ich konnte mich einfach nicht bewegen! Sie hat sich nicht mehr gerührt und stark geblutet, aber ich konnte nichts tun, verstehst du das? Ich war zu schwach, um meiner Mutter zu helfen... Viel zu schwach... Und plötzlich fing es im Inneren des Autos an zu brennen... Ich war viel zu sehr auf meine Mutter fixiert um zu merken, dass mein Gurt Feuer gefangen hatte. Im Krankenhaus hat man mir dann gesagt, dass es das war, was mein Gesicht verbrannt hat. Und meine Mutter... ist an diesem Tag gestorben... Meinetwegen.“

Ich zitterte am ganzen Körper und bekam mich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Meine Gefühle spielten völlig verrückt und meine Gedanken waren komplett durcheinander. Aber ich klammerte mich an Jungkooks Hand fest, so stark ich nur konnte. „Tae, ich...“, sagte er aber plötzlich und löste seine Hand. Sofort wurde der Schwall an Tränen schlimmer und ich stand hastig auf, um nach oben zu rennen. Als ich aber gerade am Treppenabsatz war, packte der Dunkelhaarige mich am Arm und drehte mich zu sich, bevor er mich in den Arm nahm und flüsterte: „Es war nicht deine Schuld, nichts davon. Es war ein Unfall, hörst du? Du lebst und darüber bin ich unheimlich froh.“

Und zum ersten Mal seit dem Unfall, fühlte mein Inneres sich nicht mehr so verdammt leer an.

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Jetzt ist es raus...

Scars ⇴ ᴛᴀᴇᴋᴏᴏᴋ ✓Where stories live. Discover now