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Taehyung

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Wohnung endlich wieder halbwegs ordentlich aussah und ich wischte mir geschafft den Schweiß von der Stirn, als ich den Lappen ins Spülbecken warf. Die Mülltüten stapelten sich neben der Haustür, denn mein Vater hatte, wie erwartet, kein einziges Mal den Müll entsorgt.

Ich ging noch mal durch die ganze Wohnung und sah nach, ob ich noch etwas übersehen hatte, konnte aber nichts entdecken. Das Schlafzimmer hatte ich nicht angerührt, denn ich wollte meinen Vater auf keinen Fall wecken. Trotzdem durchflutete mich ein unbehagliches Gefühl, als ich in meinem Zimmer stand und es begutachtete. Ich hatte mich in dieser Wohnung schon lange nicht mehr wohl gefühlt, schob es aber immer auf die Situation und den Zustand meines Vaters. Aber das war es nicht. Es war einfach nicht mehr mein Zuhause, fühlte sich leer und kalt an.

Ich musste an das Haus denken, in dem wir damals gewohnt hatten, als meine Mutter noch lebte und ein beklemmendes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Es ging nicht darum, dass dort mehr Platz, oder dass es ordentlicher war, sondern darum, dass ich einfach gern dort war. Es war immer warm und ich fühlte mich geborgen, sobald ich von der Schule nach Hause gekommen war. Meine Mutter hatte immer schon das Essen fertiggekocht und das, obwohl sie auch noch arbeitete. Appa gab ihr jedes Mal einen Kuss, wenn er nach Hause kam und setzte sich dann mit seiner Zeitung auf den weichen Sessel im Wohnzimmer. Wir unterhielten uns über den Tag und lachten immer viel, wenn Eomma von der Arbeit im Kindergarten erzählte.

Aber all das war nun nicht mehr wichtig, denn es war weg. Sie war weg.

Ich wusste, dass ich nicht zu viel darüber nachdenken durfte, denn das hätte mich nur noch tiefer in diesen Sog aus Trauer und Einsamkeit gezogen. Dann allerdings, blitzte die Erinnerung an etwas anderes in mir auf. An jemand anderen: Jungkook. Obwohl es anfangs eher holprig zwischen uns war, verband ich mit ihm dieses warme, vertraute Gefühl und seufzte auf. Für ihn muss es wie Verrat gewirkt haben, dass ich mit meinem Vater gegangen war, aber was sollte ich anderes tun? Er war nun einmal mein Vater und alles, was mir von meiner Familie geblieben war. Ich konnte ihn einfach nicht aufgeben...

Zurück in der Küche, öffnete ich den Kühlschrank und es überraschte mich nicht, dass ich darin nichts außer gähnende Leere und eine halbvolle Flasche Ketchup fand. Glücklicherweise hatte ich noch etwas Geld in der Tasche und so entschied ich mich, ein paar Dinge einzukaufen, damit mein Vater wenigstens etwas zu essen hatte nach seinem Rausch.

Auf dem Weg zum Supermarkt zog ich mein Handy aus der Tasche, musste aber feststellen, dass mein Akku wohl leer war und so steckte ich es wieder weg. Ich freute mich darauf, Mr. Kim wieder zu sehen, denn er war einer der wenigen Menschen in meinem Leben, der immer nett zu mir war und mir half, wo er nur kann. Er war immer sehr verständnisvoll und nie sauer, wenn ich mal eine Schicht verpasst hatte, weil ich ein blaues Auge oder Schrammen im Gesicht hatte. Ich musste es ihm nicht einmal erklären.

Als die Türen sich öffneten, sog ich sofort den bekannten Geruch des Ladens auf und konnte mir das Lächeln nicht verkneifen. Die Glocke ertönte und Mr. Kim rief zwischen Regalen weiter hinten: „Schauen Sie sich um, ich bin gleich für Sie da!", weshalb ich einfach „Nicht nötig, ich kenne mich aus!", zurückrief und es dauerte nicht mal zehn Sekunden, da lief er zwischen den Regalen hervor und kam lächelnd auf mich zu. Außer mir war kaum jemand im Laden, also hatte er wohl Zeit und ich gab einen überraschten Laut von mir, als er mich ohne jede Vorwarnung umarmte. Es war mir nicht unangenehm, im Gegenteil. Ich hatte nur einfach nicht damit gerechnet.

„Schön, dass du dich mal wieder sehen lässt! Wir haben dich hier vermisst", sagte er, als er wieder einen Schritt zurückgetreten war. Leicht beschämt kratzte ich mich am Hinterkopf und grinste schief. „Ja, ehm... Ich hatte viel... zu tun?", fragte ich mehr, als dass ich sagte und Mr. Kim klopfte mir, immer noch lächelnd, auf die Schulter. „Das macht doch nichts! Mein Neffe ist für dich eingesprungen. Er konnte das Geld gut gebrauchen. Also mach' dir keine Gedanken. Und wenn du wieder hier arbeiten möchtest: Deinen Spind hat niemand angerührt, da habe ich aufgepasst, wie ein Wachhund!", erklärte er und wieder einmal wusste ich, wieso ich so gern in diesem Geschäft arbeitete.

Danach unterhielten wir uns eine ganze Weile lang. Es fühlte sich einfach so leicht und natürlich an, dass ich überhaupt nicht auf die Zeit achtete. Irgendwann, als Mr. Kim an die Kasse musste, schweifte mein Blick aber doch zu der Uhr, die hinter derselbigen an der Wand hing und weitete die Augen. Ein weiterer Blick bestätigte es mir, denn es wurde bereits dunkel draußen. Beinahe zwei Stunden hatten wir geredet und ich hatte meinen Vater völlig vergessen. Deshalb schnappte ich mir schnell das Gemüse, Fleisch, Reis und ein paar Flaschen Wasser und lief zur Kasse. Natürlich wollte Mr. Kim mich wieder nicht bezahlen lassen, bestand aber darauf, dass ich mich öfter blicken ließ.

Mit schnellen Schritten lief ich wieder zur Wohnung, damit ich das Essen fertig hatte, bevor mein Vater wieder aufstand. Währenddessen dachte ich noch daran, dass ich mein Handy aufladen musste um mich bei Jungkook zu melden. Ja, er hatte blöde Dinge gesagt, aber ich wusste, dass er sich Sorgen machen würde, wenn er nichts von mir hörte und das wollte ich ihm nicht antun.

Als ich endlich wieder zurück war, rannte ich die Treppen rauf und eilte in die Wohnung. Allerdings kam mir direkt etwas komisch vor, denn es roch irgendwie... verbrannt? Ich sah mich suchend um und als ich in der Küche stand, stockte mir der Atem. Auf dem Herd stand eine Pfanne, aber das war nicht die Ursache, denn die Herdplatte daneben glühte und auf ihr lag ein Geschirrtuch, dass dicke Wolken aus Qualm aufsteigen ließ.

„Appa?", rief ich sofort und ging auf den Herd zu. Ich wollte gerade das Tuch herunternehmen, da wurde ich am Arm gepackt und zurück gerissen. „Was zum Teufel machst du hier, du missratene Kreatur?", fragte er wütend und ich konnte die Alkoholfahne schon riechen. Bei einem kurzen Blick zur Seite, sah ich die Wodkaflasche vom Morgen auf dem Wohnzimmertisch stehen und ärgerte mich darüber, dass ich sie nicht entsorgt hatte. In seinem Blick war nichts mehr von der Traurigkeit zu sehen, die sich mir am Morgen noch zeigte. Stattdessen prangte auf seinem Gesicht wieder gleiche Ausdruck, wie er ihn mir sonst immer zeigte. „Ich habe dich was gefragt! Was suchst du hier? Ich will deine Visage nicht mehr sehen!", und noch bevor ich etwas sagen konnte...

...spürte ich auch schon den ersten Schlag ins Gesicht.

Scars ⇴ ᴛᴀᴇᴋᴏᴏᴋ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt