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Taehyung

„Hey Tae“ sprach mich diese wunderbare Stimme an, während ich auf dem Dach des Hochhauses saß, in dem ich wohnte. „Hey Lieblingsnachbar!“ grüßte ich ebenfalls und zog mir die Kapuze etwas zurück, um Jin ansehen zu können. Er war etwas älter als ich, aber das merkte man kaum, wenn wir uns unterhielten. Ob es nun daran lag, dass ich für mein Alter reifer war, oder daran, dass er einfach nicht den Erwachsenen raushängen ließ, konnte ich nicht mal mehr sagen.

Aber Jin war einer der wenigen Menschen, die mein Gesicht kannten, deshalb machte es mir in seiner Gegenwart auch nichts mehr aus, es ihm zu zeigen.

Ich schämte mich für meine Narben nicht, das war nicht der Grund. Aber offen damit herum zu laufen, hätte Fragen aufgeworfen, die ich nur ungern immer wieder beantworten wollte. Sie gehörten nicht meiner Vergangenheit an, denn sie waren deutlich da. Sie waren nichts verblasstes, das man mal eben so vergessen konnte. Bloß die Erinnerung daran war nicht angenehm und ich wollte nicht jeden Fremden daran teilhaben lassen.

„Wie war dein Tag?“ fragte ich ihn und setzte mich in den Schneidersitz, wobei ich mein Notizbuch zuklappte und zur Seite auf den staubigen Kiesboden legte. „Anstrengend. Wirklich anstrengend. Und deiner?“ stellte er die Gegenfrage und sah mich interessiert an. Wieder eine Eigenschaft an ihm, die ich sehr schätzte, denn bei Jin hatte ich nie das Gefühl, dass er bloß aus Höflichkeit fragte, wie es die Meisten mit „Na, wie geht's?“ taten.

„Er hat es wieder getan. Ich kriege nur einfach nicht raus, wieso.“ gab ich ehrlich zu und seufzte, während ich an den Bändern meines Hoodies zog. „Dann gib dir mehr Mühe. Du gibst doch sonst nicht so schnell auf.“ zuckte der Dunkelhaarige neben mir mit den Schultern, griff nach der Tasche, die er neben sich gestellt hatte und kramte einen Moment lang darin herum. „Hier, iss das. Ich habe viel zu viel gemacht.“ sagte er und hielt mir eine rote Brotdose hin, die ich ihm lächelnd abnahm und meinen Kopf auf seine Schulter legte.

Das tat er jeden Tag, denn er kannte meine Situation genau.

Die Wohnungen in dem Haus waren nicht besonders schön und die Wände leider auch nicht besonders dick, deshalb bekam Jin jeden einzelnen Streit zwischen meinem Vater und mir mit. Und leider auch jeden Frauenbesuch, denn genau dafür gab er unser ganzes Geld aus. Frauen, Alkohol und die Spielhalle. Deswegen war ich froh darüber, Jin zu haben, denn er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, auf mich aufzupassen.

„Hat er immer noch Besuch?“ fragte ich leise und spürte an Jin's Reaktion auch sofort die Antwort. Denn er antwortete nicht. Ich biss direkt noch mal in das Sandwich, einfach, um symbolisch, oder in diesem Fall, etwas echter herunter zu schlucken. Geweint hatte ich deshalb schon lange nicht mehr, und doch machte es mich unendlich traurig. Nicht, weil ich vielleicht etwas mehr kämpfen musste, als andere, sondern weil ich wusste, was mein Vater mit seinem Verhalten zu verdrängen versuchte.

Es verletzte mich, dass ich ihm einfach nicht helfen konnte, egal, wie sehr ich es auch versuchte. Aber aufgegeben hätte ich niemals, denn ich liebte meinen Vater trotz allem sehr.

„Irgendwann wird es besser, Tae.“ versicherte Jin mir und legte seinen Arm um meine Schulter.

Und ich hoffte es...

Scars ⇴ ᴛᴀᴇᴋᴏᴏᴋ ✓Where stories live. Discover now