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Jungkook

Die Tür wurde hinter mir zugeknallt und ich prallte mit der Stirn voran gegen die gegenüberliegende Wand. Ich brauchte einige Momente um zu realisieren was eigentlich passiert war, denn das Alles kam so plötzlich, dass ich gar nicht mehr wusste
wo oben und unten war.

Wie in Trance lief ich die Treppen runter. Alles um mich herum schien völlig dumpf und weit weg, als wäre ich in einer Seifenblase gefangen gewesen. Ich hätte dort bleiben sollen. In diesem Haus und ich hätte alles versuchen müssen, um Taehyung zu helfen. Aber ich konnte nicht. Irgendetwas zwang mich dazu, nach Hause zu gehen und so viel Abstand zwischen diesem Gebäude und mich zu bringen, wie nur irgend möglich.

Mein Herz raste, fühlte sich aber gleichzeitig an, als würde es in Zeitlupe schlagen und ich schwitzte, während mir unglaublich kalt war. Dieser Schubser und der wütende Gesichtsausdruck von Taes Vater ließen sämtliche Erinnerungen an meine letzte Schule wieder verdammt deutlich aufblitzen und mein erster Instinkt war nunmal Flucht, denn das konnte ich am Besten: Vor Dingen weglaufen die mir Angst machten. Es war beinahe schon ein Reflex, so normal war es für mich.

Läuft etwas nicht so, wie geplant? Lauf weg.

Macht mir etwas Angst? Lauf weg.

Kommt mir jemand zu nah? Lauf weg.

Es fing plötzlich an zu regnen und ich blieb wie erstarrt stehen, während ich nach oben sah. Die dicken Tropfen prasselten auf mein Gesicht und liefen mir in die Augen, weshalb ich wieder runter sah und mir mit den Handballen darüber rieb. Offenbar zu fest, denn irgendwas piekste in meinem Auge und das war dann auch der Moment, in dem ich wieder klar wurde. „Fuck!“, fluchte ich und drehte mich ruckartig um. Ich hatte Taehyung im Stich gelassen, obwohl ich versprochen hatte, dass ich ihn beschützen würde! Nicht nur, dass ich ihm nicht geholfen habe, nein. Ich bin wie der letzte Feigling einfach gegangen, um mich selbst zu schützen, wie ich es immer tat.

Aber nicht dieses Mal.

Also atmete ich tief durch, strich meine mittlerweile nassen Haare nach hinten und rannte los. Mir war egal, dass ich bis auf die Knochen durchnässt wurde oder dass meine Rippe schmerzte. Alles was zählte, war wieder zurück zu Taehyung zu kommen. Es war fast, als wären meine Gefühle in den letzten Stunden Achterbahn gefahren und nun hatte mein System nur auf diese eine Aufgabe geschaltet: Tae.

Schneller als beim ersten Mal, rannte ich die Stufen zu Taehyungs Wohnung hoch, kam aber nicht weit, denn schon auf der zweiten Treppe sah ich ihn sitzen und blieb geschockt stehen. Sein Kopf lehnte seitlich an der Wand und war so weit nach unten gesenkt, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Allerdings konnte ich den roten Fleck an der dreckig-weißen Wand sehen und wie es langsam daran herunter lief. Sein Körper regte sich kein bisschen, wirkte fast schon leblos und ich bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn er...

Nein, das konnte nicht sein!

Ich ging die wenigen Stufen zu ihm hoch und beugte mich runter, als ich direkt vor ihm stand. Ich legte eine Hand auf seine Schulter und wollte ihn gerade ansprechen, aber er zuckte bei meiner Berührung sofort stark zusammen. „Nicht! Bitte tu' mir nicht mehr weh, bitte!“, weinte er und hob seine Arme über seinen Kopf, wie er es schon in der Schultoilette getan hatte. „Shhh, Taehyung. Ich bins, Jungkook. Ich werde dir nichts tun...“, versuchte ich ihn zu beruhigen und dazu zu bringen, mich anzusehen, aber er schien sich immer weiter hinein zu steigern. „Nein! Sieh' mich nicht an! Ich bin hässlich! Ich bin nichts wert! Du wirst mir weh tun!“, sagte er immer wieder panisch und mir gingen langsam wirklich die Ideen aus.

Einen letzten Gedanken hatte ich dann aber doch noch: Mir fiel ein, dass meine Mutter mir immer etwas vorgesungen hatte, wenn ich aus lauter Angst vor Monstern in meinem Schrank nicht schlafen konnte. Und zu verlieren hatte ich schließlich auch nichts. Nach kurzem Überlegen holte ich tief Luft und fing an, ein Lied zu summen. Es dauerte eine ganze Weile, aber nach ein paar Minuten beruhigte Taehyung sich tatsächlich immer mehr, bis er nurnoch schniefte.

Ohne mit dem Summen aufzuhören, streckte ich meine Hand wieder nach ihm aus und diesmal zuckte er nicht zusammen, weshalb mir ein riesiger Stein vom Herzen fiel. So erleichtert ich aber war, wir mussten langsam mal aus dem Flur raus und ich wollte Tae unbedingt ins Krankenhaus bringen. Mit einer Kopfverletzung war nämlich nicht zu spaßen, das wusste ich genau. „Tae...“, sagte ich ruhig, fast flüsternd und spürte die Gansehaut, die er bekam sogar durch seinen dünnen Pullover. „...wir müssen dich uns Krankenhaus bringen. Meinst du, du schaffst das?“, fragte ich vorsichtig, aber er schüttelte sofort mit dem Kopf. „K-Kein Krankenha-haus, bitte...“, schluchzte er verzweifelt und ich seufzte. Zurück in die Wohnung seines Vaters konnte ich ihn schließlich auch nicht bringen.

„Okay... Dann gehen wir zu mir.“

Scars ⇴ ᴛᴀᴇᴋᴏᴏᴋ ✓Where stories live. Discover now