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Taehyung

Ich konnte mich einfach nicht bewegen.

Mein Vater drängte sich an den Schülern vorbei und brüllte dabei immer wieder nach mir, in der Hand eine halb leere Flasche Wodka. Ein paar Meter von mir entfernt, rief er wieder meinen Namen, achtete aber nicht darauf, wo er hinlief und stolperte, bevor er fiel. „So eine Scheiße! Taehyung! Beweg' deinen nutzlosen Arsch hierher und hilf deinem Vater, wie es sich gehört!", meckerte er und mein Herz fing an zu rasen. Schlagartig fühlte ich mich wieder wie der kleine Junge, der Angst vorm Fahrradfahren hatte.

Jungkook stellte sich sofort schützend vor mich und streckte mir seine flache Hand entgegen, wohl um mir zu signalisieren, dass ich mich nicht vom Fleck bewegen sollte. Das hatte ich eigentlich auch nicht vor, als ich meinen Vater aber schluchzen hörte, setzte mein Herz kurz aus. „Taehyung! Wo bist du nur? Komm' wieder nach Hause...", winselte er schon fast, während er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Immer wieder rutschte er ab und fiel auf den Boden, weshalb einige Schüler um ihn herum anfingen zu lachen.

Ich konnte das nicht mit ansehen.

Er war noch immer mein Vater und ein kleines bisschen Würde hatte er trotz allem verdient.

Ich musste es tun, sonst wäre mein Herz mir wahrscheinlich aus der Brust gesprungen, vor lauter Sorge. All die Beschimpfungen, die Schläge und der Alkohol waren vergessen und ich sah dort auf dem Boden nur noch meinen Vater, der nicht mehr allein aufstehen konnte. Das machte mein Herz einfach nicht mehr mit. Deshalb stand ich auf und wollte auf ihn zugehen, doch Jungkook hielt mich am Arm fest. „Tae! Lass' dich nicht wieder um den Finger wickeln. Hast du vergessen, was er dir alles angetan hat? Wie er dich behan-" „Lass' mich los", unterbrach ich ihn und wollte seine Hand wegziehen, aber er hielt mich weiterhin fest.

„Nein! Du wirst nicht zu diesem scheiß Säufer gehen und dich wieder so niedermachen lassen, klar?", befahl er mir schon fast und diesmal war ich derjenige, der wütend wurde. „Du hast mir überhaupt nichts zu sagen, okay? Und sprich nicht so über ihn, er ist mein Vater!", schlug ich seine Hand fest weg und riss mich regelrecht von ihm los. Ich hörte nur noch die jammernden Töne meines Vaters und das Gelächter der Menschen um ihn herum. Und so durfte es einfach nicht sein.

Ich machte ein paar Schritte auf meinen Appa zu, wurde aber wieder von dem Jüngeren aufgehalten. „Tae, wenn du jetzt mit ihm gehst, kann ich dir nicht mehr helfen...", redete er auf mich ein, aber ich konnte und wollte nicht auf ihn hören. „Dann lass' es doch", presste ich deshalb heraus und hockte mich endlich neben den weinenden Mann auf dem Boden. „Ich bin hier, Appa. Komm' ich bringe dich nach Hause. Du musst dich ausruhen", sagte ich leise und legte meine Hand auf seinen Arm. Sofort sah er mich an und für den Bruchteil einer Sekunde lächelte er. Aber das war es nicht, was mich so schwach werden ließ. Es waren seine Augen. In diesem einen, unfassbar kurzen Moment, konnte ich darin wieder die Liebe und Freude sehen, mit der er mich an dem Tag angesehen hatte, als ich mein erstes Fußballspiel gewann.

Meine Sicht verschwamm und jemand sprach mich an, wohl ein Lehrer, aber ich wollte meinen Vater einfach nur noch nach Hause bringen. Es war mir egal, wer mich sah und dass sie nun alle wussten, dass er Alkoholiker war. Das Alles zählte für mich nicht und war auch nicht mehr wichtig.

Mit zusammengepresstem Kiefer, schob ich meinen Arm als Stütze unter den Arm meines Vaters und hievte uns beide mühsam wieder hoch auf die Beine. Kurz schwankte er noch, aber ich konnte uns beide so stabilisieren, dass ich ihn fest im Griff hatte. „Tae, das kannst du doch nicht machen, man!", rief Jungkook mir hinterher, als wir den Schulhof verließen. Irgendwo tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich auf ihn hätte hören sollen, aber ich konnte einfach nicht.

Und er kam mir auch nicht hinterher.

Es dauerte ziemlich lange, bis wir endlich zu Hause angekommen waren und bis ich meinen Vater endlich die Treppen hochgeschleppt hatte. Immer wieder sackte er in sich zusammen, brabbelte irgendein unsinniges Zeug oder musste sich setzen. Mein Rücken schmerzte und ich schwitze extrem, als wir aber endlich oben angekommen waren, atmete ich erleichtert durch. 

Ich zog den Schlüssel aus der Hosentasche meines Vaters und stieß die Tür auf, als ich aufgeschlossen hatte. Sofort kam mir dieser bissige Geruch von Alkohol und Zigaretten entgegen, gepaart mit etwas, das ich nicht definieren konnte. Es brannte in meiner Nase und roch einfach widerlich. Ich bekam ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich meinen Vater so hatte Leben lassen und nahm mir vor, die Wohnung aufzuräumen, sobald ich ihn in die Dusche gestellt und danach ins Bett gebracht hatte.

[....]

Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann hatte ich es geschafft und meine Vater lag laut schnarchend in seinem Bett, das ich noch schnell provisorisch frisch gemacht hatte, indem ich einfach ein frisches Laken über das Alte warf. Als ich dann wieder im Wohnzimmer stand, sah ich erst das ganze Ausmaß der vergangenen Zeit vor mir und wischte mir über die Stirn. Es half ja alles nichts, so konnte die Wohnung nicht bleiben.

Und deshalb fing ich an, alles sauber zu machen.

Scars ⇴ ᴛᴀᴇᴋᴏᴏᴋ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt