Es war unser Ding

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Drei Tage war Ryans Tod nun her. Noch immer war die Unfallursache nicht ganz geklärt, noch immer tat es höllisch weh, wenn ich an ihn dachte und noch immer verkroch ich mich im Schutz des MC's. Die Schule hatte ich noch nicht wieder besucht. Damian hatte erzählt, dass nachdem die einzelnen Lehrer Ryans Tod in den Klassen verkündet hatten, erst Ruhe, dann Entsetzten und dann munteres Spekulieren in der Schule geherrscht hatte. Ich war ein Glück nicht anwesend gewesen. Es hätte mir nur mein Herz noch weiter zerrissen. Die einzige zu der ich Kontakt hatte, war Lily. Sie erzählte mir am Telefon was wir in der Schule gemacht hatten und was privat bei ihr passierte. Ich erzählte nichts von mir, dazu war ich nicht in der Lage. Es war einfach alles noch viel zu chaotisch, unreal und schmerzhaft. Ende der Woche ist Ryans Beerdigung. Ich hatte Angst davor, fürchterliche Angst. Doch Damian hatte Recht gehabt, der MC war das, was mir momentan halt gab. Ich fühlte mich geborgen und Zuhause, in dem Clubhaus hinter der Werkstatt im Industriegebiet.

„Da draußen ist gerade ein Truck mit Ersatzteilen angekommen. Kann mal jemand ausladen helfen?", rief George in das Clubhaus. Kurz darauf setzten sich vier Members murmelnd in Bewegung.

„Es gibt in einer Stunde essen!", rief Maya den Männern hinter her. Ich sah ihnen nach und pfiff dann nach Buddy.

„Wo willst du hin?", wollte Sally verwundert wissen.

„Ich geh mal gucken was da draußen so los ist", erwiderte ich. Sally lächelte und nickte mir dann aufmunternd zu. Gemeinsam mit Buddy lief ich über den Werkstatthof und bemühte mich, nicht unter rangierenden Autos zu Enden. Gezielt ging ich zur Wellblechhalle, in welcher viele Autos der Members, vergessene Autos und Oldtimer standen. Auf der linken Seite relativ am Anfang erblickte ich das dunkele grüne Muscle Car. Ryans Auto. Ich hatte es hergefahren damit es repariert wird, nachdem Nathan mich anrief, dass Ryan besoffen zu ihm gefahren war. Wieder war da dieser Schmerz in meiner Brust. Wie konnte es bloß dazu kommen, dass er von der Straße abkam und gegen den Baum prallte? Wie? Er fuhr doch schon so lange Bikes und generell war er ein guter Fahrer. Bestimmt war wieder der Alkohol schuld gewesen. Heute Nachmittag müsste ich wieder zu Polizeiwache, dann würden weitere Ursachen des Unfalls bekannt gegeben werden. Ich wollte es ehrlich gesagt gar nicht wissen, es änderte eh nichts mehr an der Tatsache. Ryan war tot, das hatte mein Kopf endlich begriffen, mein Herz jedoch noch nicht. Zweimal hatte ich ihn angerufen, weil ich ihm sagen wollte, wie ich mich fühlte und jedes Mal realisierte ich in dem Moment, dass er nicht mehr da war. Sein Handy landete bei dem Unfall im Graben und verschwand unter der Matschschicht. Man konnte es nicht mal mehr orten.

Mit einem kleinen Seufzer verließ ich die Wellblechhalle und lehnte mich gegen den hohen Maschendrahtzaun, welcher das Gelände einzäunte. Buddy rangelte sich mit einem anderen Pitbull, Jayden fuhr einen Geländewagen aus der Werkstatt und parkte ihn in einer Lücke zwischen anderen Autos, die fertig waren, um abgeholt zu werden. Die anderen Members wuselten umher. In der Werkstatt sah ich, wie Dad, Damian, Steve, Owen, Taylor und andere in Arbeitskleidungen an insgesamt fünf Autos gleichzeitig arbeiteten.

„Na mein Kind", kam es auf einmal von Thomas und er gesellte sich zu mir. Ich nickte ihm zu und sah wieder dem Trubel zu.

„Was stehst du hier so einsam?", wollte er wissen. Ich zuckte minimal mit den Schultern

„Ich mag ab und zu mal ganz gerne allein sein", erwiderte ich nur unschlüssig. Er nickte verstehend.

„Was hast du vor in Zukunft?", fragte er nun. Ich sah ihn kurz an, dachte nach und kaute auf meiner Unterlippe

„In Bezug auf was?", hakte ich nach.

„In Bezug auf dein Leben", entgegnete er, „Wann willst du wieder in die Schule?"

„Vielleicht gar nicht", gab ich murmelnd von mir.

„Wieso das denn nicht? Hast du Angst, dass sie dich komisch anschauen werden und mit dem Finger auf dich zeigen?", wollte Thomas verwundert wissen. Ich schüttelte heiser auflachend den Kopf.

„Die sind mir da alle so egal", meinte ich nur.

„Wo liegt denn dann das Problem?", kam es fast ein wenig verwirrt von ihm. Ich holte tief Luft und seufzte.

„Ohne Ryan ist Schule nicht Schule. Ohne ihn ist nichts so, wie ich es gewohnt bin und schätze", erklärte ich. Thomas nickte verstehend.

„Das wirst du in nächster Zeit noch häufiger spüren", murmelte er leise und ich glaube, dass er es eigentlich nicht laut sagen wollte.

„Ich geh jetzt wieder ins Büro und kümmere mich um den ganzen Papierkram. Jayden fährt dich nachher", gab er schlussendlich von sich. Ich nickte und setzte mich auf den kleinen Mauervorsprung.

Gegen 3pm stieg ich zu Jayden auf seine Harley und wie fuhren vom Hof. Bei der Polizeiwache wartete Jayden draußen im Schatten der Bäume. Freiwillig betrat er das Gebäude eher selten und versuchte auch strikt dies zu vermeiden. Die Polizistin, die mir vor drei Tagen die Todesnachricht überbrachte, holte mich heute erneut ab und brachte mich in einen Verhörraum. An der Wand hingen Bilder von einem Unfall und irgendwelchen Fahndungsfotos. Keine Ahnung ob sie mit Ryans Unfall zu tun hatten oder nicht.

„Mrs. Hudson, es gibt Neuigkeiten zum Unfallhergang", begann sie schlussendlich und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Ich gab ihr mit einer Kopfbewegung zu erkennen, dass ich ihr zuhörte.

„Wir haben alle Beweismaterialien, Fotos und Gegenstände untersucht und kontrolliert und haben ein sehr deutliches Bild vom Unfallhergang bekommen", erklärte sie, machte dann eine kleine Pause um Luft zu holen und sah mich ernst an.

„An der Unfallstelle wurden keine Bremspuren gefunden, auch keine Fremdeinwirkung hat stattgefunden. Von einem Wildunfall gehen wir auch nicht aus, da keine Fußabdrücke darauf hinweisen könnten. Meine Kollegen und ich sind uns sehr sicher, dass Ryans tödlicher Unfall aus eigener Überzeugung und eigenem Willen geschah", verkündete sie ein wenig bedauernd. Ich brach den Blickkontakt ab, sah auf die Tischplatte und schüttelte in Gedanken den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein.

„Warum sind sie sich da so sicher?", wollte ich fast tonlos wissen. Die Polizistin atmete hörbar ein und schob mir einen zusammengefalteten Zettel zu. Auf ihm geschrieben stand ‚an Elo'. Es war Ryans Schrift. Ich erkannte seine Handschrift sofort. Mit zitternden Händen griff ich nach dem Zettel faltete ihn auseinander. Auf ihm stand nur ein einziger Satz. ‚Vergiss mich nicht'. Mehr nicht. Ich spürte wieder diesen Druck in meinem Kopf, doch ich unterdrückte meine Tränen.

„Kann ich gehen?", fragte ich monoton. Die Polizistin nickte und brachte mich zum Haupteingang. Ich trat raus aus der Wache, atmete die warme Luft tief ein und spürte die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Doch mir war kalt. Ich ging schnellen Schrittes zu Jayden, welcher sich gegen seine Harley lehnte und mich abwartend ansah.

„Es war Freitod", murmelte ich noch immer ungläubig. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er mich an.

„Verkneif dir dein Kommentar, fahr uns zum Berg", meinte ich und setzte meinen Helm auf. Jayden sah mich prüfend an, gehorchte aber und startete die Harley. Knapp eine Dreiviertelstunde fuhren wir über den leeren Highway, bis wir am Straßenrand hielten. Ich nahm meinen Helm ab und sah runter auf LA, wie die Stadt dort mit all ihren Lichtern und ihrer Hektik in der untergehenden Sonne vor dem Meer lag. Hier oben war es still. Nur ein leichter, kalter Wind wehte. Ich lehnte mich gegen die Leitplanke und Jayden gesellte sich zu mir. Er nahm sich eine Zigarette und wollte die Schachtel gerade wegpacken, da hielt ich seinen Arm fest.

„Ich will auch eine", murmelte ich. Jayden klemmte sich seine Zigarette prüfend hinters Ohr und gab mir ebenfalls. Ich nahm das Feuerzeug von Ryan aus der Jackentasche, zündete die Zigarette an und nahm einen Zug. Langsam blies ich die Rauchwolke aus und drehte immer wieder das Feuerzeug in meiner Hand. Seit wann hast du ein Feuerzeug. Ich sah auf meine Hand, lachte heiser auf und schüttelte in Gedanken den Kopf.

„Ryan hat das Feuerzeug Dad gegeben, an dem Tag als er starb und er in der Werkstatt war. Dad sollte es mir geben", erklärte ich.

„Charles weiß nicht dass du rauchst, oder?", hakte Jayden nach. Ich schüttelte den Kopf.

„Ich habe nur gemeinsam mit Ryan geraucht. Es war unser Ding. Wir saßen um fünf Uhr morgens auf einem Hausdach und haben Zigaretten geraucht, getrunken und übers Leben geredet", rechtfertigte ich mich. Ich seufzte und sah in die Sonne, welche bereits am Horizont in orange rot das Meer berührte.

„Ich wüsste gerne warum", kam es von mir ohne inhaltlichen Zusammenhang. Jayden sah mich an, atmete tief ein und brachte es auf den Punkt.

„Menschen sterben nicht an Suizid, sie sterben an Traurigkeit", entgegnete er.

O U T L A WWhere stories live. Discover now