Die Philosophie des Clubs.

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„Packt eure Sachen", kam es unerwartet von Dad, welcher auf einmal im Wohnzimmer stand. Damian und ich sahen ihn fragend an und auch Niner hob neugierig den Kopf.

„Wo willst du hin?", fragte Damian verwundert

„Wir fahren meinen alten Mann besuchen", erwiderte er nur und verschwand wieder. Mein Bruder und ich sahen uns fragend an.

„Warum denn so plötzlich?", wollte Damian wissen

„Weil es Redebedarf gibt", erwiderte Dad monoton. Er schien richtig wütend zu sein.

Meinem Vater zur Liebe erhob ich mich und machte mich in meinem Zimmer daran ein paar Klamotten zusammen zu packen. Ich fragte mich, warum Grandpa nicht bei Bryans Beerdigung war. Schließlich hatte er ihn wie seinen eigenen Sohn großgezogen. Grandpas Fehlen bei der Beerdigung war glaube ich auch der Grund, weswegen Dad ihn jetzt besuchen wollte. Er wollte mit ihm reden. Das konnte nichts Gutes bedeuten. So sehr mein Vater seinen Vater auch liebte, die beiden waren sich in dem Thema Rebel Rider nie einig gewesen. Unter der Führung meines Grandpas hatte der Club eine Hochphase, jedoch begann damals auch die Brutalität, die bis heute anhielt.

Den Weg nach Carson City verbrachte ich gemeinsam mit Niner in einem der Vans, währenddessen Damian und Dad die ganze Zeit vor mir auf ihren Harleys fuhren. Unser Weg führte uns an LA vorbei über die verlassenen Highways in Richtung der Grenze zu Nevada. Für uns, als so kleine Gruppe, kein ungefährlicher Trip, schließlich näherten wir uns bis auf wenige Meilen dem Gebiet der Devils. Die gesamte Fahrt sah ich immer wieder kontrollierend in die Rückspiegel des Vans, um sicherzugehen, dass sie uns nicht aufgespürt hatten. Meine Waffen hatte ich auf meinem Schoss platziert, um im Notfall agieren zu können. Ich kannte es nicht anders, aber wie ich so darüber nachdachte, war es erschreckend immer mit damit rechnen zu müssen, dass einer von der Seite kam, um uns zu erschießen. Ich schob den Gedanken schnell wieder beiseite. Die letzten Wochen seit Bryans Tod hatte ich genug am Club gezweifelt.

Als ich endlich abbog auf die sandige Auffahrt und in der Ferne schon das alte Bauernhaus erblickte, atmete ich erleichtert aus. Hier war die Welt meist ruhiger, als in Ontario. Den bulligen Van fuhr ich über das Gras vor dem Haus und parkte in der Scheune. Niner bellte aufgeregt, da er noch nie hier war und sprang freudig umher. Er erkundete alles, währenddessen wir von Grandpa uns Grandma begrüßt wurden. Wie immer, wenn wir hier waren, teilten Damian und ich uns ein Zimmer. Das alte Bauernhaus war zu dem Zweitsitz des MC's geworden, weswegen jedes Member ein eigenes Bett hatte, wenn es hier war. Damian verschwand innerhalb von Minuten und tat das, was er immer tat, wenn er hier war. Er ging raus in die Scheune und bastelte an Grandpas Oldtimern rum. Einfach nur, weil er Spaß daran hatte. Ich saß gerade auf der alten Ledercouch meiner Großeltern, als Dad ins Wohnzimmer kam und mich abwartend ansah.

„Komm mit", kam es auf einmal von ihm und er nickte in Richtung Haustür. Ich erhob mich und folgte ihm skeptisch. Zielstrebig ging er mit mir zu seiner Harley und gab mir einen Helm. Beide setzten wir die Kopfbedeckungen auf. Dad stieg auf sein Bike und ich nahm hinter ihm Platz.

„Ich muss dir was zeigen", meinte er nur und startete sein Bike. Wir fuhren ein kurzes Stück durchs Dorf, bis wir in einem verlassenen Industriegebiet ankamen. Dad hielt vor einem verlassenen Haus, welches von Bauzäunen umrundet war. Alles sah zerfallen und heruntergekommen aus, als hätte man das Gebäude einfach zurückgelassen. Zögernd stieg ich von der Harley und sah mich skeptisch um. Dad nickte mir nur aufmunternd zu und schob den Zaun ein Stück zur Seite, sodass er das Gelände betreten konnte. Ich folgte ihm. Überall lagen Dinge rum. Bänke, Stühle, Tische, leere Bierflaschen, Schilder, Motoren von Autos, Karosserieteile. Dad betrat das Gebäude und ich traute meinen Augen kaum. Vor mir erstreckte sich eine lange Theke, welche sich einmal halbrund durch den Raum erstrecke und an welcher wohl einst mal Barhocker standen. Diese lagen nun verteilt im Raum auf dem Steinboden. Einige waren zerbrochen, andere ineinander verkeilt und in die Ecke geworfen. Der Fußboden war staubig und überall lagen verrottete Kisten rum. Ein Rahmen ermöglichte den Durchgang in einen weiteren Raum. Über ihm zierte ein großer Schriftzug die Wand. Die Farbe war bereits verblasst, doch ich erkannte es klar und deutlich. 'Rebel Rider Kalifornien'. Das hier war das alte Clubhaus des Clubhauses. Das, in welchem mein Vater groß wurde, mit den anderen älteren Members. Dad legte eine Hand auf meine Schulter und schob mich in Richtung des Raumes hinter dem Durchbruch in der Wand. Ich erblickte einen verwüsteten Raum an dessen Wand Bilder hingen. Teilweise waren die Bilderrahmen runter gefallen oder zerstört worden. Ich erkannte dennoch vereinzelte bekannte Gesichter auf den Bildern. Thomas, George, Lance. Die ältesten Members waren also auch hier gewesen. Auf einem Bild erkannte ich einen Jungen, circa Anfang zwanzig, vielleicht sogar noch jünger. Im Arm hielt er ein gleichaltriges Mädchen. Der Junge grinste nur schief, doch das Mädchen schien herzhaft zu lachen. Die Haare hingen ihr in langen Locken über die Schultern, ihre Statue war sportlich und sie hatte ein bildhübsches Gesicht. Hohe Wangenknochen, große Augen, eine kindliche Stirn.

„Schau mal", meinte ich zu Dad und zeigte auf das Bild. Er kam zu mir und sah eine kurze Zeit lang stumm auf das Bild. Vorsichtig nahm er es von der Wand und ein schiefes zaghaftes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen.

„Wer ist sie?", wollte ich von ihm wissen. Er seufzte leise

„Das ist Mandy", erwiderte er und strich den Staub vom Bild. Ich sah mir Dad und Mandy eine Zeitlang an. Sie waren glücklich gewesen, damals. So glücklich hatte ich Mom und Dad nie zusammengesehen. Dad hing das Bild zurück und drehte sich um. Ich tat es ebenfalls und augenblicklich begannen meine Augen die Wand komplett abzuscannen. An der Wand genau vor mir stand ein langer Text, welcher vor langer Zeit von jemanden dort angeschrieben werden sein worden muss.

„Als ich als Kind hier im Clubhaus rum rannte und diese Worte das ersten Mal las war es, als würden sie mir direkt aus der Seele geschrieben werden.", meinte Dad und blieb vor der Wand im ehemaligen Clubhaus stehen. Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und las stumm.

„Anarchismus steht für die Befreiung des menschlichen Verstandes von der Herrschaft der Religion; die Befreiung des menschlichen Körpers von der Herrschaft des Eigentums; die Befreiung von Fesseln und Zurückhaltung durch die Regierung. Es steht für eine soziale Ordnung, basierend auf einer freien Gruppierung von Individuen", murmelte ich leise vor mich hin. Das war also die Philosophie des Clubs.

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