"Du bist kein Menschenmüll"

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„Ey, hat jemand Judy heute schon gesehen?", kam es laut von Dad über die Musik hinweg.

„Sie ist vorhin zum Friedhof gefahren", erwiderte Sally hinter der Theke.

„Ja, sie kam aber vor circa einer Stunde wieder. Ihr Bike steht hier auch. Keine Ahnung wo sie ist", entgegnete Owen schulterzuckend. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Dad sich im Clubhaus um.

„Keiner weiß wo sie ist?", hakte er prüfend nach. Als Antwort bekam er nur schulterzucken oder ein Kopfschütteln der Members. Dad seufzte laut, rollte die Augen und lehnte sich gegen den Tresen.

„Kein Mädchen verlässt bei Einbruch der Dunkelheit das Clubhaus alleine. Und sie verschwindet kurz vor Sonnenuntergang. Die macht echt nur Ärger", gab er genervt von sich.

„Charles, versteh sie doch mal. Sie hat gerade ihren Onkel begraben – den letzten Menschen den sie hatte", nahm George die Mitte Zwanzigjährige in Schutz. Dad schüttelte nur den Kopf und sah George abwartend an.

„Warum suchst du sie überhaupt?", wollte George nun wissen.

„Sie hat die Bestellung entgegen nehmen sollen, war aber nicht da und deswegen musste Bryan das machen. Alles schön und gut, aber jetzt soll sie sich jedenfalls darum kümmern, dass die Bestellung bezahlt wird. Thomas hat genug im Büro zu tun", erklärte Dad.

„Ist sie nicht draußen?", hakte ich prüfend nach

„Sehr gut möglich, der Junkie ist bestimmt wieder mal aufm Dach", erwiderte Dad genervt. Ich sah ihn wütend an.

„Als ob du im Leben alles besser gemacht hast", gab ich wütend von mir.

„Ich hab mich jedenfalls nicht durchs Leben gehurt", konterte er sauer. Vor Wut brodelnd verließ ich das Clubhaus und ließ hinter mir die Tür ins Schloss fallen. Ich ging über das Werkstattgelände und steuerte die Feuertreppe an. Zielstrebig kletterte ich hoch und erblickte auf dem Dach Judy im Schneidersitz sitzen. Sie rauchte und sah in Richtung Sonnenuntergang. Seufzend sah ich sie an und ging auf sie zu. Neben ihr lag ein Löffel, eine Spritze und Taschentücher, an welchem Blut zu sehen war. Judy, die Heroinabhängige unter uns. Unschlüssig blieb ich neben ihr stehen.

„Na, besuchst du den Junkie?", gab sie leise von sich, wandte ihren Blick aber nicht vom Sonnenuntergang.

„Junkie heißt Menschenmüll. Du bist kein Menschenmüll", entgegnete ich.

„Setzt dich", kam es auf einmal von ihr. Ich gehorchte und sie bot mir eine Zigarette an. Dankbar nahm ich eine und zündete sie an.

„Weißt du, warum man Heroin nimmt?", fragte sie auf einmal in die Stille rein.

„Nein", entgegnete ich und sah sie abwartend an.

„Heroin ist das Medikament gegen alles. Gegen Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Verlustängste, Zukunftsängste, Versagensängste. Einfach gegen alles.", erklärte sie und sah mich an. Ihre Augen wirkten glasig, ihr Gesicht blass. Ihre blonden Haare hingen ihr teilweise im Gesicht.

„Die Sucht ist eine Art Selbstheilungsversuch eines tiefersitzenden Problems. Das ist es, was niemand verstehen kann", meinte sie schulterzuckend

„Judy, du gefährdest dein Leben damit. Alle da unten lieben dich. Niemand will dich verlieren", entgegnete ich und zeigte über meine Schulter in Richtung Clubhaus.

„Entweder ich sterbe für den MC, sowie wir es wohl alle tun werden, oder ich sterbe an den Drogen. Wo ist da denn noch der Unterschied?", gab sie seufzend von sich.

„Das eine ist ein ehrenvoller Tod, dass andere schlichtweg nur der Goldene Schuss", erwiderte ich leise. Sie sah mich an, blies eine Rauchwolke aus und sah kopfschüttelnd dann wieder in Richtung Sonnenuntergang. Ich nahm einen Zug an meiner Zigarette und wartete, bis sie wieder etwas von sagte.

„Als ich wiederkam dachte ich, dass ich alles so vorfinden würde, wie ich es gewohnt war ... aber so war es nicht. Die Strukturen im Club haben sich geändert, die Menschen, das Geschäft, die Cops. Einfach alles", begann sie seufzend, „aber ganz besonders du" Fragend sah ich sie an.

„Wie meinst du das?", hakte ich verwundert nach.

„Du warst immer die süße kleine Eleanor, die sich mit ihrem Bruder stritt. Du hast immer gesagt, du würdest ihn hassen, aber du konntest niemanden hassen. Du sahst in jedem Menschen etwas Gutes. Es war so niedlich zu zusehen, wie du dich immer über ihn aufgeregt hast und am liebsten an jede Wand geschrieben hättest, wie blöd er doch sei.", kam es mit einem leichten Grinsen auf ihren Lippen von ihr. Ich musste ebenfalls grinsen. Ja, so war es immer gewesen.

„Und jetzt", fuhr sie seufzend fort, „jetzt hab ich das Gefühl, dass du wirklich hassen kannst. So wie ich es von den Anderen, und besonders von Damian, mitbekommen habe, haben dich die letzten Monate ganz schön herausgefordert. Du warst immer dieses liebe kleine Mädchen, und dann plötzlich hast du dich geändert. Du versankst kurz in einem Tief und kamst wieder, als eine komplett andere Person mit einer neuen Denkweise, einem neuen Erscheinungsbild und irgendwie auch einer neuer Seele. Das Mädchen, das einst sich um alles und jeden gekümmert hatte, kümmerte sich jetzt gar nicht mehr" Nachdenklich sah ich runter und kaute auf meiner Unterlippe rum. Minimal nickte ich.

„Ja, ... ja das stimmt. Ryans Tod hat viel mit mir gemacht", gab ich zu. Judy nickte.

„Das ist gut so", versicherte sie mir. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Das bin nicht ich", widersprach ich kleinlaut. Judy lachte leicht auf

„Eleanor. Dieses ‚sich um alles und jeden kümmern', ist ein Charakterzug deiner Mutter gewesen, den sie dir scheinbar vererbt, aber selbst komplett wegtrainiert hat. Sie kümmert sich nicht mehr um dich und deinen Bruder. Ihr seid ihr quasi egal", erklärte sie, „Das was jetzt zählt ist, dass du dich dem Club weiter annäherst. Du gehörst hier hin. Das wissen wir beide. Es ist quasi Voraussetzung, dass du dich nur noch für dein enges Umfeld interessierst, weil du genau weißt was im Club abläuft. Hab keine Angst vor deinem neuen Ich. Es wird schon einen Grund haben, warum du so geworden bist"

„Hast du deswegen Taccas Geräte abstellen lassen?", wollte ich von ihr wissen. Judy atmete sichtbar tief ein und zögerte ein wenig. Verletzlich nickte sie minimal.

„Ja. Ein Vize-Präsident im Koma ist kein Vize-Präsident. Er ist nicht einmal ein Member. Weder ein Member der Rebel Rider, noch ein Member der Nachtwache. Er ist ein Nichts. Ich hab Tacca zu sehr geliebt, um ihn länger als ein Nichts dort liegen zu lassen", erwiderte sie mit brüchiger Stimme. Ich sah sie leicht lächelnd an

„Ich weiß wie es weh tut jemanden den man liebt im Herzen zu haben, aber nicht in die Arme nehmen zu können", gab ich leise von mir. Judy nickte.

„Ist es immer noch so schlimm?", fragte sie vorsichtig nach. Etwas unschlüssig zuckte ich mit den Schultern.

„Ich glaube die Tatsache, dass die schmerzhaftesten Abschiede die sind, die nie ausgesprochen oder erklärt worden, macht es für mich so schwer", entgegnete ich seufzend.

„Ich weiß. Ich habe es selbst durchgemacht", stimmte sie mir kleinlaut zu, „Liebst du ihn noch?" Ich musste ernsthaft nachdenken, wie ich darauf antworten sollte.

„Ich weiß es nicht. Ich fühlte mich sicher, wenn ich bei ihm war. Ein Gefühl, das ich so noch nicht wieder gespürt habe, seitdem er weg ist. Ich glaube, ich möchte mich einfach nur wieder sicher fühlen", erwiderte ich verlegen. Judy nickte verstehend und ihr Blick wanderte kurz auf die Spritze, welche zwischen uns lag.

„Bitte finde einen anderen Weg dich sicher zu fühlen. Tue es nicht wie ich mit Drogen", bat die Blonde mich verlegen. Ich nickte leicht.

O U T L A WWhere stories live. Discover now