Das ist Familie.

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Es war spät am Abend und ich saß alleine im Clubhaus auf einer Sitzbank an einem Tisch. Ich hatte wieder gefühlte Ewigkeiten damit verbracht an die Wand zu starren und stumm meine Tränen mein Gesicht herunter laufen zu lassen. Fünf Tage war sein Tod nun her. Morgen wäre seine Beerdigung. Noch immer kam mir das alles nicht real vor. Naja, was erwartete man auch, wenn er gerade erst gestorben war.

Plötzlich hörte ich neben dem Ticken der Wanduhr auch noch Geräusche aus der Werkstatt wahr. Buddy spitzte die Ohren und knurrte aggressiv in Richtung Tür. Ich griff zu der Waffe, die neben mir auf der Bank lag. Die Tür ging auf und mein Vater trat hinein. Buddy entspannte sich wieder und Dad sah sich suchend im Clubhaus um. Als er mich erblickte blieb er stehen, seufzte und sah mich fast ein wenig genervt an.

„Wie kann es sein, dass in einem MC mit etlichen Members niemand weiß, wo sie Eleanor Hudson aufhält?", kam es frustriert von ihm. Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Weil niemand sich dafür interessiert?", erwiderte ich distanziert.

„Weil du mit Niemanden von dir aus redest", korrigierte er mich

„Es gibt keinen Grund mit denen zu reden", konterte ich. Dad setzte sich mit hochgezogenen Augenbrauen mir gegenüber.

„Sollte es aber. Das ist deine Familie", entgegnete er. Ich zuckte nur mit den Schultern und sah auf meine Hände.

„Ist das jetzt nur so eine Phase, oder bleibt das dauerhaft so?", wollte er wissen.

„Was?", hinterfragte ich.

„Deine eiserne und distanzierte Art", erklärte er.

„Keine Ahnung, aber es hat mich verändert", erwiderte ich nur und sah in das Gesicht meines Vaters. Seine Mimik war nachdenkend, genervt, ratlos und traurig zu gleich. Kurz starrte er vor sich hin, sah mich dann an und alle Emotionen verschwanden.

„Wenn es dich nicht verändert hätte, hättest du ihn nie geliebt", meinte Dad und lehnte sich gegen die Rückenlehne.

„Wenn Liebe alleine ihn gerettet hätte, wäre er nie gestorben", gab ich in Gedanken von mir und starrte gegen die Wand, welche sich hinter Dad befand.

„Ich weiß Elo, ich weiß", erwiderte er leicht nickend und seufzte. Dad stand auf, ging zur Theke und nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank.

„Willst du auch eins?", fragte er mich und sah mich abwartend an. Kurz zögerte ich, nickte dann aber zustimmend.

„Ja, bitte", antwortete ich. Dad kam mit den beiden Flaschen wieder zum Tisch, öffnete sie mit einem Feuerzeug, weil er gerade nichts anderes zur Hand hatte und reichte mir eine Flasche. Wir stießen nicht an, noch sagten wir etwas wie ‚Prost', denn das war eine Art Gruß aufs Leben für uns. Doch momentan war da nicht viel Leben in meinem Leben. Dad nahm einen großen Schluck Bier, stellte in Gedanken in die Flasche auf den Tisch, stützte sich mit den Unterarmen auf der Tischkante ab und sah mich an.

„Eins, was ich in all den Jahren beim Club gelernt hab ist, dass eine Ehefrau, die ihren Mann verliert Witwe genannt wird. Ein Ehemann, welcher seine Frau verliert, wird Witwer genannt und ein Kind, welches seine Eltern verliert, wird Waise genannt. Aber es gibt kein Wort für Eltern, die ihr Kind verlieren. Das beschreibt gut, wie schlimm dieser Verlust ist.", begann er nachdenklich. Er spielte mit dem Bierdeckel in der Hand rum und kaute auf seiner Unterlippe.

„Ich hab mir heute zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht, wie seine Eltern sich wohl fühlen müssen.", kam es schlussendlich von ihm. Ich holte tief Luft und sah teilnahmslos mich im Clubhaus um.

„Die beiden steckten gerade mitten in der Trennung. Ryan war ihnen egal, zumindest haben sie das so nach außen getragen. Es war mehr eine Wohngemeinschaft zwischen Mr. Carter und Ryan, als ein Familienleben. Von seiner Mutter hörte er gar nichts und dass er Drogen nahm, die Schule schwänzte und sich den Kopf im Boxclub zusammenschlagen ließ, hat sie auch nicht interessiert. Ich hätte nie gedacht, dass ich in solch einer Situation mal so denke, aber sie haben selber Schuld und ich habe kein Mitleid mit ihnen. Sie haben diese Bestie in ihm gefüttert, mit ihren Taten und ihrer absoluten Ignoranz. Sie sind in meinen Augen schuld daran, dass er wie eine Bombe explodierte. Ich hab ihn nie davon abhalten können, nur besänftigen konnte ich seine Wut und seinen Hass. Ja, ich war mit ihm zusammen und ich hab ihn geliebt, aber außer mir, hat ihm glaube ich niemand das Gefühl gegeben, etwas wert zu sein", erklärte ich und spürte, wie erneut Tränen in meine Augen stiegen. Stumm liefen sie mein Gesicht herunter und ich verzog nicht im Geringsten meine Mimik. Sie flossen einfach über meine Augenringe, weiter über meine Wangen, mein Kinn hinunter, an meinem Hals entlang, bis sie auf die Tischplatte tropften. Dad sah mich eine Weile an, stützte seine Stirn in seiner Hand ab und schüttelte den Kopf.

„Das war es immer. Genau davor hatte ich immer Angst. Das ich euch so vernachlässige, dass ihr eines Tages euch einsam fühlen wurde. Ich hab immer gedacht, dass das nie passieren würde, weil Damian und du, ihr seid ja zu zweit, aber ihr versteht euch ja seit langer Zeit nicht mehr. Ihr seid quasi alleine. Jeder für sich. Wir durchlaufen gerade dasselbe, wie Ryan es tat. Ich kann also genauso damit rechnen eines Tages so einen Anruf zu bekommen wie Mr. Carter, weil ich es gerade genauso in die Scheiße reite", gab Dad fast ein wenig verzweifelt von sich. Ich schüttelte nur den Kopf und sah ihn an.

„Du reitest nichts in die Scheiße, du sicherst unsere Zukunft. Wenn Damian oder ich deine Rolle als Vater in Frage stellen würden, würde ich hier nicht vor dir sitzen, sondern irgendwo in San Francisco in einem Wohntower hocken – alleine. Denn da wären wir einsam, weil Mom sich keine Zeit nimmt neben ihrem Job. Hier haben wir den Club und dich. Du bist ein guter Vater. Stell deine Vaterrolle nicht in Frage, nur weil Ryan es bei seinem Vater tat. Wir leben anders als Ryan und seine ‚Familie' es taten. Es ist das, was alle am MC als gefährlich bezeichnen – unser Zusammenhalt. Jeder würde für jeden durchs Feuer gehen. Jeder würde für jeden in den Knast gehen. Jeder würde alles tun, um den anderen und den MC zu schützen. Das ist Familie und wir sind ein Teil davon. Es kommt nicht immer auf die kleine Familie an, sondern manchmal echt auf die große", entgegnete ich. Dad sah mich ein wenig skeptisch an, nickte dann aber und lehnte sich zurück.

„So sehr es auch auf den MC als Familie ankommt, ich wünschte ich hätte unsere kleine Familie retten können. Ich meine nicht unsere vierköpfige Familie mit dir, Damian, Mom und mir, sondern unsere jetzige vierköpfige Familie mit dir, Damian, mir und Buddy. Wir vier, die jetzt in der kleinen Wohnung leben.", meinte er zögernd. Ich musste leicht grinsen und sah ihn an.

„Weißt du, warum ich hier sitze?", richtete ich an meinen Vater. Er schüttelte minimal den Kopf.

„Weil am Tag nach Ryans Tod Damian mit mir ins Clubhaus zog. Er brachte mich unter die Leute des MC's, meinte ich solle hierbleiben, damit ich mich nicht einschließe und in ein tiefes Loch falle. Ich sollte lernen weiter zu leben.", erklärte ich ihm, „Gefallen bin ich trotzdem, aber aufstehen lerne ich jetzt mit Hilfe des MC's.

O U T L A WWhere stories live. Discover now