„Ich wünschte, wir hätten ihn retten können"

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Ich schaltete den Motor des Muscle Cars aus und sah schweigend auf das graue Gebäude vor mir. Das schlichte und abgenutzte Schild mit der Aufschrift ‚Box Club' zierte die kahle Wand. Im unteren Bereich der Außenwand war jede Menge Graffiti gesprüht worden. Seufzend zog ich den Schlüssel aus der Zündung, nahm meine Tasche und stieg aus. Zögernd betrat ich den ehemaligen Boxclub von Ryan. Es war alles wie immer. Jeder Boxsack hing dort, wo er vor zwei Monaten noch hing. Die Handschuhe hingen an der großen Sprossenhand, da dieses Gebäude einst eine Turnhalle war. Nichts hatte sich geändert. An einem Boxsack erblickte Nathan. Der 19 Jährige schien mich auch erkannt zu haben, unterbrach verwundert sein Training und kam zu mir rüber. Verschwitzt zog er seine Boxhandschuhe aus und sah mich fragend an.

„Eleanor. Was machst du hier?", wollte er außer Atem wissen und schien dann erst meine Sporttasche zu sehen.

„Trainieren. Ich will wieder trainieren", erwiderte ich. Erstaunt sah er mich an.

„Kein Problem. Und was genau?", entgegnete er.

„Erst einmal, es hier auszuhalten ohne ihn", murmelte ich vor mich hin. Nathan atmete sichtbar ein und legte eine Hand auf meine Schulter.

„Zieh dich um. Wir fangen mit Kickboxen an", schlug er vor und riss mich damit aus der unangenehmen Situation. Ich zog mir meine Sportsachen in der Umkleidekabine an und ging dann zurück, in den mit Matten ausgelegten, Raum. Nathan fand ich weiter hinten in einer Ecke stehend. Er hatte bereits Springseile in der Hand. Als ich zu ihm kam, reichte er mir eins und zog das normale Training durch. Wir wärmten uns vernünftig auf und dann zog er sich Pratzen an die Hände, sodass ich immer wieder verschiedene Schläge ausprobieren konnte. Es war unfassbar anstrengend und schon bald klebten meine Haare mir im Gesicht fest. Verschwitzt band ich sie nach hinten und schnappte immer wieder nach Luft. Ich hatte so viel aufgestaute Energie rausgelassen. Es tat gut. Schwer atmend stützte ich meine Hände in den Hüften ab und legte eine kurze Pause ein. Nathan ließ seine Arme fallen und sah mich eine Zeit lang an.

„Wie geht es dir?", wollte er so beiläufig wie möglich wissen und löste die Klettbänder der Pratzen. Ich holte Luft und sah ihn kopfschüttelnd an.

„So wie es einem halt geht, wenn man innerhalb von zwei Monaten zwei Leute zu Grabe getragen hat", erwiderte ich. Nathan sah mich von der Seite skeptisch an. Mein schroffer Umgangston war ihm nicht vertraut.

„Wer noch?", fragte er jedoch nur.

„Einer guter Freund meines Vaters", gab ich nur von mir und richtete mich wieder auf

„Das tut mir Leid", kam es nur kleinlaut von ihm.

„Wie geht es dir?", fragte ich nun zurück und sah ihn abwartend an. Nathan wiegte seinen Kopf von rechts nach links und schien nach Worten zu suchen.

„Kaputt?", erwiderte er und es klang mehr nach einer Frage, als nach einer Aussage, „Er fehlt einfach und gerade weil wir so viel Zeit hier zusammen verbracht haben, merkt man es jeden Tag so sehr. Ich kam immer hier her, um zu trainieren und mein Ziel zu erreichen, aber auch weil Jax und Ryan hier waren. Sie sind einfach meine beiden besten Freunde" Ich nickte verstehend und sah nachdenklich auf den Mattenfußboden.

„Ihr beide wart mitunter die einzigen, die er je hatte", meinte ich mit ernster Stimmenlage. Nathan sah mich fragend an.

„Ryan hat nach Menschen gesucht, die ihn nehmen und akzeptieren, wie er nun mal war. Da gab es nicht viel mehr Menschen, als uns drei", erklärte ich.

„Ich wünschte, wir hätten ihn retten können", gab Nathan leise seufzend von sich.

„Was meinst du, wie oft ich das schon gedacht habe?", murmelte ich vor mich hin. In Gedanken sah ich mich im Boxclub um. Am Tresen stehend erblickte ich Jax und Mason.

„Ach Mist, ich habe Jax versprochen gegen ihn zu kämpfen", fluchte Nathan leise vor sich hin.

„Geh schon, ich kann auch erstmal andere Übungen machen", meinte ich und machte ihm mit einer Kopfgeste klar, dass er zu Jax gehen sollte. Nathan nickte mir zu und ging auf seinen besten Freund zu. Ich setzte mich auf den Boden und begann mich zu dehnen. Wie oft war ich hier gewesen wegen Ryan? Vier, oder fünf Mal die Woche? Mindestens. Wie oft hatte ich ihn abgeholt, weil er sich verletzt hatte oder nach dem Training versackt war? Ständig.

„Hey, kann ich mich zu dir setzen?", ließ mich eine Stimme zusammen schrecken. Verwundert sah ich über meine Schulter und erblickte Mason. Ich musterte ihn kurz und musste feststellen, dass er keinen Knutschfleck am Hals und deutlich Muskel zugelegt hatte. Ich nickte ihm zu und zog meine Beine in den Schneidersitz.

„Seit wann bist du hier?", wollte ich skeptisch wissen.

„Knapp eineinhalb Monate", erwiderte er.

„Und bei wem zahlst du Schutzgeld?", hakte ich nach. Mason musste leicht auflachen.

„War klar, dass du es nicht wie Gott gegeben hinnimmst", stellte er amüsiert hin. Hm. Wie Gott gegeben schon gar nicht.

„Wie bist du denn bitte hier rein gekommen? Fuckboys werden hier nicht so gerne gesehen", entgegnete ich unschlüssig.

„Ryans Tod hat das mit mir gemacht, was er mit jedem gemacht hat", begann er seufzend, „er hat mich geändert"

„Keine Mädchen mehr, die bei dir Schlange stehen?", hakte ich skeptisch nach und zog die Augenbrauen hoch.

„Das schon, aber niemand macht mehr die Tür auf", erwiderte er. Kopfschüttelnd und leicht amüsiert rollte ich die Augen.

„Warum standst du Ryan so nah?", wollte ich wissen.

„Wir haben uns zusammen durch Spanisch gekämpft", gab er schulterzuckend von sich.

„Wir beide haben uns nur kennengelernt, weil du wusstest, dass Ryan dich zusammenschlagen würde, wenn du etwas Falsches tust. Richtig?", fragte ich wie aus dem Nichts. Mason sah mich erstaunt an.

„Du wusstest davon?", platzte es aus ihm raus. Ich musste leicht grinsen und schüttelte den Kopf.

„Indirekt. Ryan musste den Aufpasser als Freund und Bruder übernehmen. Damian hat sich komplett aus meinem Leben rausgehalten. Somit musste Ryan so mehr darauf achten", erklärte.

„Und jetzt?", wollte Mason forschend wissen. Ich atmete tief ein und seufzte.

„Jetzt übernehmen Damian und ein guter Freund von mir diesen Part", entgegnete ich murmelnd.

„Ein guter Freund?", hakte er prüfend nach. Ich nickte ernst und verzog keine Miene.

„Ein guter Freund. Ich kann nicht mehr richtig lieben, seitdem er weg ist", bestätigte ich seine Anspielung. Wir schwiegen einige Zeit und sahen Jax und Nathan im Ring zu.

„Hat sich Ryan jemals um dich geprügelt?", fragte Mason vorsichtig. Ich seufzte.

„Nie um mich", gab ich kleinlaut von mir, „aber immer wegen mir". Mason sah mich erstaunt an.

„Er meinte es ernst", stellte er fest. Ich nickte.

„Er wollte Damian so oft verprügeln dafür, dass er so ein schlechter Bruder war. Es war nicht einfach ihn davon abzuhalten", gestand ich und sah Nathan und Jax weiter zu.

„Und jetzt?", hakte er nach.

„Was meinst du?", entgegnete ich.

„Ist Damian jetzt ein richtiger Bruder?", wollte er wissen. Ich sah Mason nachdenklich an und atmete tief ein.

„Er war immer mein Bruder, aber jetzt fängt er an, an Bedeutung in meinem Leben zu gewinnen", erwiderte ich nickend.

O U T L A WWhere stories live. Discover now