"Es ist für wen du stirbst"

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Ich half wieder einmal Thomas im Büro mit all dem Papierkram. Heute kamen einige Lieferungen an Ersatzteilen an die sortiert und im Lager verstaut werden mussten. Wie zu erwarten war ich wieder mal die rechte Hand des fünfzig Jährigen. Dad war noch am frühen Morgen mit einigen anderen Members aufgebrochen, irgendwas regeln. Damian und ich schwänzten heute schon wieder Schule und halfen in der Werkstatt. Er schraubte mit Jayden an einem Van rum und ich war wieder einmal bei Thomas.

„Ist Judy gestern noch angekommen?", wollte ich beiläufig wissen. Thomas nickte und scannte irgendwas ein.

„Sieh hat auf dem Sofa geschlafen und ist heute Morgen weggefahren. Keine Ahnung wohin", erwiderte er schulterzuckend. Wo würde Judy hinfahren, wenn sie nach zwei Jahren das erste Mal wieder beim Club wäre. Ich fand schnell eine Antwort und sah Thomas nachdenklich an.

„Die größte Lieferung kommt erst heute Nachmittag, oder?", fragte ich.

„Ja, wieso?", entgegnete er skeptisch.

„Ich will Judy sehen", erklärte ich. Thomas grinste amüsiert.

„Als sie gestern Nacht ankam, wollte sie dich sehen, aber du hast schon geschlafen", erwiderte er. Ich musste breit Lächeln.

„Na los, geh schon. Weißt du denn wo sie ist?", kam es liebevoll von ihm.

„Ich weiß wo ich hingehen würde, wenn ich das erste Mal wieder hier wäre nach zwei Jahren", meinte ich nur und nahm mir den Schlüssel für die Harley vom Haken. Thomas lachte nur und entließ mich von der Arbeit. Aus der Werkstatt holte ich meinen Helm und setzte mich dann auf die Harley. Mit einem lauten Knattern startete ich sie und fuhr vom Werkstattgelände. Ich fuhr durch unseren Stadtteil, über die relativ leeren Straßen. Wir lebten in dem Viertel, in welchem sich ‚normale' Menschen eher nicht blicken ließen, aus Angst vor uns. Hier geschehen angeblich die dunklen und illegalen Geschäfte, die Straßenschlägereien, die Bandenkriege und das Rotlicht Milieu. So ganz Unrecht hatten die Leute auch nicht, die das Viertel als solches beschrieben, doch wir lebten auch ein einigermaßen normales Leben.

Ich hielt vor dem Krankenhaus, hing meinen Helm über den Lenker und betrat das kahle und klimatisierte Gebäude. Zielstrebig lief ich durch das Gebäude und bog ab in Richtung der Intensivstation. Ich erblickte den Wartebereich, in welchem häufig sich Members der Rebel Rider aufhielten, doch heute war niemand hier. Festen Schrittes ging ich vorbei an den Sitzbänken den verlassenen Gang entlang und verlangsamte meine Schritte. Dann erblickte ich sie. Schwarze enge Jeans, schwarzes Shirt, die beiden komplett tätowierten Arme vor der Brust verschränkt und die blonden langen Haare über den Schultern hängend. Judy stand da und sah schweigend auf ihren Onkel, welcher noch immer im Koma lag.

„Er liegt seit zwei Monaten im Koma", gab ich leise von mir. Judy zuckte zusammen, ihr Kopf drehte sich rasant in meine Richtung. Ihre ernste und versteinerte Miene brach und ein kleines Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.

„Elo", kam es erfreut und fast ein wenig erleichtert von ihr. Sie ging ein paar Schritte auf mich zu und nahm mich in die Arme. Ich erwiderte ihre liebevolle Geste und fühlte mich geborgen. Das Mädchen, welches mich so viele Jahre großzog, war nun endlich wieder zurück. Judy ließ mich wieder los und sah auf Tacca.

„Was ist mit ihm passiert?", wollte sie nun wissen.

„Die Devils haben ihn auf offener Straße gerammt und von der Straße abgebracht. Anschließend schossen sie auf ihn", erklärte ich seufzend. Judy stand versteinert da, musterte ihren Onkel wieder und wieder.

„Kann man zu ihm reingehen?", fragte sie nach einiger Zeit. Ich nickte leicht. Judy ging in Richtung der Tür und hatte schon die Türklinke in der Hand, drehte sich dann aber noch einmal um.

„Komm mit", murmelte sie leise. Ich gehorchte und folgte ihr in das sterile Zimmer. Judy setzte sich auf die eine Seite des Bettes, ich auf die andere. Das gleichmäßige Piepen der Maschinen, an welchen die etlichen Schläuche von Tacca angeschlossen waren, war das einzige, was die Stille durchbrach. In gleichmäßigen Abständen zuckten die Linien auf der Anzeige in die Höhe und sanken wieder ab. Es fühlte sich an wie ein Albtraum. Judy nahm die rechte Hand ihres Onkels in ihre Hände.

„Hey ich bin's. Judy. Ich weiß, ich war lange nicht hier. Es tut mir leid. Nach der Haftstrafe wollte ich einfach nur noch irgendwo hin, wo sich niemand für mein Drogenproblem interessiert hat. Ich hab gemerkt wie dumm es war, weil ihr mir helfen wolltet. Ich hab es nur als nervig wahrgenommen. So wie es aussieht bin ich wohl etwas spät gekommen.", murmelte sie vor sich hin und sah das blasse Gesicht von Tacca an. Seine Augen zuckten, so wie sie es oft taten, wenn man mit ihm redete. Er konnte uns hören, dass wussten wir.

„Ich bin erst gestern Nacht wiedergekommen, aber dafür, dass du seit 2 Monaten dem Club nicht mehr dienen kannst, kann ich dir versichern, dass es ihm gut geht. Charles macht seinen Job gut und man merkt, wie sehr du fehlst. Sie reden oft in Nebensätzen über dich. Ich hatte gehofft wieder zukommen, dich in die Arme zunehmen und da weiter zu machen, wo dieses Familienleben endete, als ich in den Knast ging, aber das geht jetzt nicht mehr.", fuhr sie leise fort und sah gegen Ende mich an.

„Ich hasse Cops und ich hasse Devils. Beide haben sie dich zu dem gemacht, was du jetzt gerade in diesem Moment bist. Ein schwerverletzter Mensch, der um sein Leben kämpft. Wir wissen beide, dass du nur noch am Leben bist, weil diese nervigen Geräte dich am Leben halten. Ich weiß, dass ist kein Leben.", gab Judy seufzend von sich strich über das Tattoo auf Taccas Unterarm. ‚I rebel, therefore I exist'. Auf dem Gesicht der Blonden bildete sich ein kleines Lächeln und sie drehte ihren Arm so, dass man denselben Schriftzug auf ihrem Oberarm lesen konnte.

„Ich weiß dass du uns hörst, gib ein Zeichen, wenn du dich entschieden hast. Ein leichter Händedruck oder irgendwas. Das hier ist kein Leben, wie du es verdient hast", meinte Judy und sah auf den Brustkorb, wie er sich langsam hob und senkte. Sie schwieg einige Zeitlang und kaute auf ihrer Lippe rum, dann atmete sie sichtbar ein und sah mich an.

„Familie ist nicht, mit wem du geboren wurdest. Es ist für wen du stirbst", kam es schlussendlich von ihr.

O U T L A WWo Geschichten leben. Entdecke jetzt