"Er wird niemals irgendwem gehören"

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Ich quetschte meinen Koffer zu und versuchte ihn zu schließen. Fünf Tage war ich in Ontario gewesen, jetzt würde ich die Stadt wieder verlassen und nach San Francisco fahren. Heute würde ich erneut ins Krankenhaus fahren und Marc abholen. Ich hatte meinen Neffen schon dreimal gesehen. Er war inzwischen zwei Wochen alt und kerngesund. Chantals Part vorbei und der des MC's würde beginnen. Sie hat das Kind zur Welt gebracht und wir würden es jetzt großziehen. Naja, was heißt „wir"? Die ersten Wochen würde diese Pflicht an mir haften. Erst wenn Damian, Dad und die anderen wieder aus dem Knast wären, könnte die Erziehung von Marc eine Clubangelegenheit werden. Solange lag die Verantwortung bei mir.

Es war seltsam mit dem Koffer in der Hand durchs Clubhaus zu gehen und zu wissen, die nächsten drei Wochen in San Francisco zu verbringen. Ich war doch gerade erst wiedergekommen. Zumal wusste ich auch, dass Mom mich in San Francisco behalten wollte. In ihren Augen sollte ich raus aus dem Club.

„Es ist ja nur für drei Wochen", versuchte Thomas mich aufzumuntern und zog mich in eine Umarmung.

„Drei Wochen Hölle", murmelte ich in die Schulter des Mannes.

„Du nennst das behütete Appartement deiner Mutter Hölle? Was ist denn das hier?", wollte Evan leicht amüsiert wissen und zeigte um sich.

„Das ist mein Zuhause", erwiderte ich und lächelte leicht. Judy hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt und sah mich grinsend an.

„Lern du jetzt erstmal den Kleinen kennen und komme dann wieder nach Hause", meinte sie, kam auf mich zu und schloss mich in die Arme.

„Du willst ihn wirklich nicht sehen?", hakte ich bei Judy nach, da sie sich geweigert hatte die letzten Tage mit ins Krankenhaus zu kommen. Sie schüttelte den Kopf.

„Bevor ich nicht von den Drogen weg bin, will ich mit ihm nichts zu tun haben", entgegnete sie. Ich nickte verstehend. Zögernd nahm ich die Leine vom Tresen und pfiff nach Niner. Die Dogge kam brav angeschlendert und ich leinte ihn an. Ich hatte Mom gesagt, dass ich nicht alleine kommen würde, aber mit wem ich kommen würde, wusste sie nicht.

„Ihr holt mich da in drei Wochen raus, ja?", wollte ich von den Leuten im Clubhaus wissen.

„Mensch Elo, so hast du nicht mal geredet, als du in den Knast musstest", gab George amüsiert vom Tisch aus von sich.

„Das war auch eine ganz andere Situation", gab ich Augenrollend zurück.

„Lass uns", gab Evan seufzend von sich und nahm mir meinen Koffer ab. Ich folgte ihm aus dem Clubhaus in Richtung des Vans. Wir ließen Niner durch die Schiebetür einsteigen und er legte sich brav auf die  Matratze. Meinen Koffer verfrachteten wir neben dem Kinderwagen, den wir bereits aus einer der Garagen gesucht hatten. Evan nahm hinter dem Steuer Platz und ich neben ihm. Zu Musik aus dem Radio fuhren wir in Richtung Krankenhaus. Ich nahm den Kinderwagen aus dem Van und schob ihn ins Krankenhaus. Evan blieb derweil bei Niner am Van. In der dritten Etage klopfte ich an einem Zimmer. Ein ‚herein' ertönte und ich betrat das Zimmer. Chantal saß bereits geschminkt und in ihren eigenen Klamotten auf der Bettkante. Ihre Krankenhauskleidung lag hinter ihr auf dem Fußboden. Sie sah mich lange stumm an.

„Ist was?", wollte ich prüfend wissen.

„Wo ist dein Bruder?", entgegnete sie. Ich ging zielstrebig zu dem Kinderbett und hob Marc heraus. Ich nahm ihn in die Arme und erkannte Ähnlichkeiten zu Damian.

„In Sacramento", erwiderte ich monoton.

„Wann kommt der Idiot endlich aus dem Knast?", gab sie genervt von sich. Ich sah sie finster an und sie erstarrte kurz, als sie meine Blicke sah.

„Wenn ihn einer Idiot nennen darf, dann ich, mein Vater oder sonst einer des MC's. Nur weil er dich ausversehen geschwängert hat, heißt es nicht, dass du dir alles erlauben kannst", kam es wütend von mir.

„Erst hasst du ihn abgrundtief, jetzt nimmst du ihn in Schutz", bemerkte sieverwundert.

„Er ist mein Bruder. Ich habe ihn immer tief im Inneren geliebt", konterte ich und legte Marc in den Kinderwagen. Sie seufzte leise und nahm ihr Handy aus der Handtasche, um irgendwas nach zu gucken.

„Wohin gehst du jetzt?", wollte sie noch von mir wissen.

„Zu verwandten nach San Francisco", gab ich monoton von mir. Sie musste echt nicht alles wissen.

„Und wann sieht Damian endlich mal Marc?", hakte sie nach.

„Ich fahre die nächsten Tage mit Marc nach Sacramento und melde mich für eine Besucherzeit an", erwiderte ich und packte die Sachen von Marc ein, welche auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster standen.

„Eleanor?", begann sie plötzlich kleinlaut und sah mich an. Ich unterbrach meine Tätigkeit und lehnte mich gegen die Wand.

„Bitte pass gut auf ihn auf. In mein Leben passt er nicht und es ist gut, dass er bei euch lebt. Aber Damian als Vater ist glaube ich nicht einfach für ein Kind. Ich meine dein Bruder steckt ständig in Schwierigkeiten und hat andere Prioritäten", fuhr sie fort. Ich nickte minimal.

„Marc wird in einer Großfamilie aufwachsen. Es mag sein, dass er nur einen Vater hat, aber er hat etliche Tanten, Onkels und Großväter. Er wird ein gutes Leben haben", versicherte ich ihr.

„Bis Marc endlich sprechen gelernt hat, werde ich Ontario schon längst verlassen haben nach New York zu meiner Patentante. Wenn er eines Tages fragen wird, wer seine Mutter ist, sag ihm die Wahrheit. Sag ihm, dass sie Tochter von Alkoholikern war, besoffen und zu gedröhnt war, als sie geschwängert wurde und Geborgenheit bei einem Menschen suchte, den sie nur aufgrund seines Äußeren bewunderte. Mir hätte klar sein sollen, dass ich von Damian niemals so etwas zu spüren bekommen würde. Er war mir gegenüber immer herzlos", meinte sie zögernd. Ich setzte mich auf das freie Bett ihr gegenüber.

„Das ist das Problem dabei ein Mädchen zu sein. Man denkt zu viel nach, man erhofft sich zu viel und man fühlt Dinge, die niemals erwidert werden", entgegnete ich und sah sie lange an. Chantal schüttelte den Kopf und strich sich mit den Händen unter den Augen entlang. Ihre aufgeklebten Wimpern sahen leicht verklebt aus. Sie presste die Lippen aufeinander.

„Ich dachte immer, dein Bruder würde irgendwann seine eiskalte Maske fallen lassen und sein wahres Gesicht zeigen", brach sie heiser heraus. Ich schüttelte den Kopf.

„Warum erhoffst du dir so etwas? Er hätte es nie getan, dafür ist er zu stark. Aber ich kenne sein wahres Gesicht, es ist kein besonderes. Es ist so eins, wie jeder irgendwie hat. Klar, seine Art unterscheidet ihn zu anderen Jungs, aber er ist weder ein absoluter Engel, noch Teufel", erklärte ich ihr.

„Mit seiner Art hat er jedem Mädchen den Kopf verdreht und ich hatte das Gefühl, dass er irgendwann nur mir gehören würde und alle anderen hätten dann keine Chance mehr", gestand sie. Ich rollte innerlich die Augen, seufzte jedoch gegenüber Chantal nur leise.

„Er wird niemals irgendwem gehören, außer sich selbst. Er ist mein Bruder und dementsprechend gehört er Gewissenweise zu mir, aber mehr auch nicht. Man kann Menschen nicht besetzen, nur lieben und wertschätzen", meinte ich leise.

O U T L A WOù les histoires vivent. Découvrez maintenant