„Sie hat für den Club gesessen"

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Das Radio spielte, die Fenster waren unten und Damian und ich waren auf dem Weg von der Schule zur Werkstatt. Ich hatte meinen Collegeblock auf dem Schoss und wollte eigentlich den Aufsatz zu Ende schreiben, da ich diesmal wirklich gut mitgearbeitet hatte in Spanisch. Doch meine Motivation war verschwunden und statt die abschließenden Sätze zu dem Thema zu schreiben, begann ich auf einer anderen Seite rum zu kritzeln. Der Fahrtwind wehte ins Auto und zerzauste meine Haare. Ich hielt inne, schloss die Augen und lächelte. Es erinnerte mich an die Tage mit Ryan am Meer, welche wir früher gerade in den Sommermonaten zusammen verbracht hatten. Wieder war da dieser Schmerz in der Brust. Wie sehr ich ihn doch vermisste. Die Zeit mit ihm war einfach geprägt gewesen von Stress, Aggression, Leidenschaft, Liebe und Vertrauen. Es war die Kombination die es perfekt machte.

Das Auto wurde langsamer und Damian hielt an einer Ampel. Kurz sah er zu mir rüber, sah wieder auf die Straße und sah dann doch länger auf den Collegeblock. Er lachte heiser auf und schüttelte amüsiert den Kopf.

„Schmeiß den Zettel Zuhause weg, ja?", gab er bestimmend von sich. Fragend sah ich auf den Collegeblock und realisierte, was ich in Gedanken versunken gezeichnet hatte. Es waren Harleys, Autos, das Clubzeichen, Totenköpfe, Feuer und das Anarchismus Symbol. Alles Sachen die zweifelslos mit dem MC Rebel Rider in Verbindung gebracht werden können von Außenstehenden.

„Ja, mach ich", erwiderte ich leise. Damian fuhr in die enge Gasse und lenkte den Plymouth auf das Werkstattgelände. Von den lautbellenden Hunden wurden wir empfangen. Der alte Lance kam auf uns zu und nahm uns mit großer Geste liebevoll in die Arme.

„Da seid ihr ja wieder. Wie war die Schule?", wollte der Mitte Fünfzigjährige von uns wissen.

„Wie immer. Bin ich froh, wenn ich da nicht mehr hin muss", erwiderte mein Bruder genervt seufzend.

„Ein paar Wochen noch. Ihr werdet eh ab Oktober nicht mehr dorthin gehen", munterte Lance ihn auf und klopfte ihm auf die Schulter.

„Kommt, die Mädchen haben Essen gemacht. Wir essen heute alle zusammen", setzte er nach. Gemeinsam gingen wir in Richtung Clubhaus, als die Tür vom Büro aufflog und Dad mit großen Schritten auf uns zukam. Bryan lief ihm nach.

„Charles! Du kannst sie jetzt nicht wegschicken. Nicht jetzt!", redete der 40 Jährige auf unseren Vater ein. Skeptisch sahen Damian und ich die beiden an. Bryan hatte Dad eingeholt, hielt ihn am Oberarm fest und verhinderte so, dass er weiter gehen konnte.

„Wie stellst du dir das vor Bryan?! Die taucht hier jetzt nach zwei Jahren wieder auf, weil sie nach ihrer Haftstrafe sich erst einmal durchs Leben gehurt hat und jetzt wieder ein Dach überm Kopf braucht", kam es wütend von Dad.

„Weißt du, warum du so wütend bist?", wollte Bryan von ihm wissen.

„Weil sie nur scheiße gebaut hat", entgegnete Dad.

„Weil sie dir nicht egal ist", konterte er. Dad schüttelte den Kopf und sah ernst vor sich hin.

„Sie hat für den Club gesessen, wie all die Männer die da drin sind", begann Bryan erneut und zeigte über seine Schulter aufs Clubhaus, „sie würde jeder Zeit wieder für den Club sitzen. Sie ist ein Rebel Rider, genauso wie wir alle. Sie steht dem Club deutlich näher als die drei Mädchen. Ein Mädchen wie sie kann nicht alleine überleben in dieser Welt, sie wird bei befreundeten Clubs gewesen sein. Jeder andere Club hätte sie umgebracht"

„Warum bist du dir da so sicher?", hakte uns Vater nach.

„Wie soll ein Mädchen überleben, dass sich unser Clubzeichen auf die Haut tätowiert hat. Da müssen schon Verbündete sie aufgenommen haben", mischte Lance sich ein. Ich sah zu Damian hoch, welcher noch immer etwas verwirrt war. Als er meine Blicke bemerkte, sah er mich fragend an.

„Judy", murmelte ich leise und sofort schien ihm einiges klar zu werden. Dad seufzte hörbar, kratzte sich am Kopf und sah zu den Harleys, welche in einer Reihe nebeneinander standen.

„Sie wird so oder so hier auftauchen, du kennst sie. Vielleicht ist es für sie auch mal an der Zeit zu erfahren, was mit ihrem Onkel passiert ist", wandte Bryan ein. Dad nickte in Gedanken.

„Ihr habt Recht. Sie gar nichts mehr, außer den Club. Und selbst ihr Onkel wird wahrscheinlich in den nächsten Wochen nicht aufwachen", stellte er schlussendlich fest.

„Wann kommt Judy?", wollte ich wissen. Dad sah mich an und kaute auf seiner Unterlippe rum.

„Heute noch.", antwortete er, „lasst uns reingehen, die anderen warten mit dem Essen auf uns"

Im Clubhaus saßen alle an dem langen Tisch und warteten auf uns. Dad eröffnete das Mittagessen mit einem Nicken in Richtung der Members und das muntere Gemurmel begann. Wie eine große Familie saßen wir um den Tisch herum. Mein Blick wanderte zu dem freien Stuhl, welcher einst der von Dad war. Laut Rebel Rider Tradition, würde Tacca diesen Platz, als abgesetzten Präsidenten, einnehmen, doch er war nicht hier. Judy würde heute zurück zu den Rebel Ridern kehren, nach zwei Jahren. Damals verließ sie uns, um ihre 6 Monatige Haftstrafe anzutreten. Danach kam sie nicht wieder, ging scheinbar zu befreundeten Clubs und tauchte unter. Judy hatte schon immer ein Alkohol- und Drogenproblem, dass wussten alle und jeder ging damit offen um. Judy ist nicht wie Hannah, Maya oder Sally ein Teil von uns, sondern sie gehört wirklich zu den Rebel Ridern. Sie ist die Nichte von Tacca, und er ist das einzige was von ihrer Verwandtschaft übrig geblieben ist. Ihr Vater haute ab, als sie ein Kind war, ihre Mutter starb durch den Goldenen Schuss, sprich, sie spritzte sich mit Heroin zu Tode. Wir hofften Judy helfen zu können, doch als ihr das Thema Drogen zu oft angesprochen wurde, floh sie einfach. Meine Haltung gegenüber Judy? Judy müsste heute 25 Jahre alt, also 8 Jahre älter als ich. Ich hab Judy immer als herzenslieben Menschen in Erinnerung behalten. Sie hat sich immer um mich gekümmert und auf mich aufgepasst, weil Damian dies ja nie getan hatte. Sie hat mir immer zugehört und ging mit ernsteren Themen sehr offen mit mir um. Sie hat immer gesagt, was sie gedacht hat und passte perfekt in die Lebensphilosophie der Rebel Rider. Ich freute mich, dass Judy zurückkommen würde, denn vermisst hatte ich sie insgeheim all die Jahre wirklich. Ich hätte ihr gerne als erstes von Ryans Tod erzählt. Sie hätte einiges ändern können in dieser Zeit. Einiges zum Positiven für mich. Ich weiß nicht wieso, aber Judy ist anders. Sie ist einfach Rebel Rider. Egal wo sie hinkommt, sie rebelliert und dafür existiert sie.

O U T L A WWhere stories live. Discover now