Anarchismus.

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Ich saß auf dem Barhocker an der Theke in der Ecke. Es war viel los im Clubhaus. Steve, George, Dale und Ty spielten Billard, lachten laut dabei und tranken Bier. An den Tischen saßen die Members in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sich über anstehende Arbeiten in der Werkstatt, erzählten sich Storys von früher oder planten die nächsten Wochen durch. Auf dem Sofa saßen einige Oldladys von den Männern und redeten über Haushaltskram oder deren Jobs. Es war sehr familiär. So wie eigentlich immer, wenn wir zusammen waren. Dennoch fühlte ich mich einsam. Ich war nicht in der Lage mich dazu zusetzen und einfach mitzureden. Zu sehr rissen die letzten Wochen an meinen Nerven.

„Möchtest du noch etwas?", richtete Maya sich an mich und sah mich freundlich lächelnd an. Ich sah auf mein leeres Cola-Whiskey Glas und nickte dann.

„Noch einen", erwiderte ich und reichte ihr das Glas. Sie mischte mir das Getränk und stellte es dann vor mir ab. Dann machte sie sich an die Arbeit, die anderen Members im Club mit Getränken zu versorgen. Es war nicht mein zweites Glas, welches nun vor mir stand. Ich hatte an diesem Abend schon ein wenig mehr getrunken und saß dementsprechend angetrunken alleine auf meinen Barhocker. Quasi trank ich mit mir allein. Meine Gedanken schweiften dabei immer wieder unterbewusst zu Ryan.

„Maya! Einmal Cola-Whisky bitte", kam es auf einmal von Damian, der hinter mir auftauchte. Die blondierte nickte eifrig und mischte sofort meinem Bruder das Getränk. Damian hing seine Kutte über die Lehne des Barhockers neben mir und setzte sich dann auf ihn. Fragend sah ich ihn an. Er sah auf mein Getränk und mir dann in die Augen. Es wirkte so, als suche er etwas. Dann rollte er genervt seine Augen und nahm einen Schluck seines Getränkes.

„Du kannst zu viel trinken und die Nacht davor vergessen, aber du kannst niemals genug trinken, um die Person zu vergessen, die du geliebt und verloren hast", meinte er zögernd. Etwas fragend sah ich ihn an und schüttelte dann in Gedanken den Kopf.

„Ich fühl mich einfach nur so furchtbar einsam, obwohl ich in einem Raum mit meiner Familie bin", entgegnete ich

„Ich weiß", erwiderte er leise seufzend. Eine Zeitlang schwiegen wir, tranken still unser Getränk und starrten an die Wand.

„Damals, als wir noch bei Grandpa gelebt haben, da saßen wir immer zusammen auf dem Heuboden und haben auf die Wiesen geschaut", begann Damian plötzlich vor sich hin zu murmeln. Ich sah ihn an und nickte.

„Wir haben immer über unsere Zukunft gesprochen. Wie perfekt alles werden würde, erinnerst du dich?", fuhr er fort und löste seinen Blick nicht von der Wand.

„Ja", gab ich leise von mir.

„Was ist passiert?", kam es unschlüssig von ihm und er sah mich an, „Wann zerbrach das alles? Das hier ist nicht, wie es sein sollte" Ich zuckte leicht mit den Schultern.

„Ich weiß nicht mehr wer ich bin und was ich tun soll. Ich fühl mich so verloren", gestand ich.

„Während ich aufgewachsen bin, wusste ich nie wer ich sein sollte. Also hab ich die ganze Zeit damit verbracht, mich so zu verhalten wie es mein Umfeld wollte. Und weißt du, was ich endlich gelernt hab?", erwiderte er. Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Du kannst nicht gegen die Person kämpfen, die du bist", meinte er. Nachdenkend sah ich ihn an.

„Und was bin ich?", wollte ich unsicher wissen. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, sah mich an und reichte mir eine Zigarette. Ich nahm sie entgegen und zündete sie an.

„Du bist das, was du jetzt gerade bist.", erwiderte er. Skeptisch sah ich ihn an, doch er schien es ernst zu meinen

„Du warst niemand jemand anderes. Du warst immer das Mädchen vom MC, das von allen unterschätzt wurde. So sehr sie auch glauben, dass du nicht bist wie wir, sie täuschen sie alle. Du bist genauso wie Dad, Owen, Jayden, George, Tacca oder ich ein Rebel Rider. Du bist geboren und aufgewachsen als ein Teil einer Anarchie. Du lebst in einer Anarchie. Die Mächtigen machen die Regeln und brechen sie anschließend, hier gibt es keine Regeln und genau danach leben wir. Darum haben wir so viele Probleme mit dem Gesetz und du bist genauso und das ist gut so", erklärte Damian. Etwas skeptisch schüttelte ich den Kopf, doch er grinste nur.

„Anarchismus klingt in deinen Ohren wahrscheinlich noch ziemlich düster, aber achte mal auf deinen Alltag. Du wirst merken, dass ich Recht habe", gab er überzeugt von sich.

„Anarchismus ist ein Kampf gegen den Staat, das soll ich sein?", wollte ich bezweifelnd wissen. Damian sah mich kurz zufrieden grinsend an, wurde dann wieder ernst und schwieg kurz.

„Ich wollte es dir eigentlich nie ins Gesicht sagen, aber Ryans Tod hat etwas Gutes mit sich gebracht", begann er zögernd. Abwartend und etwas skeptisch sah ich ihn an.

„Du hast ihn verloren, aber du hast dich gefunden. Und irgendwie ist das alles", klärte er mir seine Gedanken auf.

„Wie meinst du das?", hakte ich verwirrt nach.

„Anarchismus ist Nachfragen und nicht einfach alles hin zunehmen. Das spürt man bei dir in letzter Zeit verstärkt", erwiderte er. Ich lachte leicht auf und schüttelte den Kopf. Nachdenklich sah ich auf den Boden und schwieg.

„Worüber denkst du nach?", fragte Damian nach. Ich spürte seine Blicke auf mir. Prüfend drehte ich mich um, um mich zu vergewissern, dass Dad nicht in der Nähe war.

„Ich überlege die Schule abzubrechen. Ich sehe da kein Sinn mehr", gab ich schulterzuckend von mir. Damian lächelte leicht.

„Zu den Weihnachtsferien hin?", hakte er nach. Verwundert sah ich ihn an.

„Wäre halt die nächste Möglichkeit", entgegnete ich.

„Das wird schon. Dann muss Dad das nur einmal unsere Mutter erklären", meinte Damian und nahm einen Zug an seiner Zigarette. Fragend sah ich ihn an.

„Ich schmeiß' die Schule auch", erklärte er.

„Warum?", hinterfragte ich.

„Weil ich Geld verdienen will in der Werkstatt", erwiderte er, „und weil ich die Schule hasse. Was soll ich da?"

„Fuck the System?", fragte ich prüfend. Er nickte mit einem schiefen Grinsen.

„Fuck the System", stimmte er mir zu. Ich schüttelte amüsiert den Kopf.

„Das wir mal der gleichen Meinung sind", stellte ich beeindruckt fest.

„Wenn du weiterhin mehr und mehr die Lebenseinstellung des MC's annimmst, wird das noch öfter vorkommen", meinte er. Ich sah mich im Clubhaus um. Anarchie. Das war die Grundidee am Anfang. Begonnen hat alles als Hippiebewegung, dann wurden sie Rebellen. Ich hatte es bereits gelesen im Buch von Ryans Grandpa. Es war spannend und beängstigend zu gleich.

„Kommt jemand mit raus?", rief Jayden über das Gemurmel der Members hinweg. Kaum einer reagierte, außer Evan und Damian. Die drei verschwanden durch die Metalltür und ich sah ihnen hinter her. Die Tür knallte ins Schloss und der schwarze Schriftzug auf der Tür kam wieder zum Vorschein.

‚Wer Anarchismus fürchtet, hat Angst vor der Freiheit'

O U T L A WWhere stories live. Discover now