• achtundsechzig •

1.7K 109 12
                                    

Finn Morgan

Das war also mein Vater. Ich sah ihm ähnlich. Sehr sogar. Liam hatte recht. Da, wo ich aufgewachsen war, war nicht mein zu Hause. Deswegen hatten sie mich so gehasst. Marcel war nur mein Cousin, seine Eltern waren nur seine Eltern.

Ich sah wieder in die Zeitung vor mir, damit keiner einen Verdacht schöpfte.

Henry McKinley.

Laut Liam war er ein hochrangiger Offizier bei der Navy. Seine Frau hatte einen Sohn, Daniel. Aber Sie war nicht meine Mutter. Sie war meine Stiefmutter. Meine Mutter war gestorben.

Mein iPhone klingelte. Es war Li. "Was gibts?" "Hey, Ähm, das wird mein letzter Anruf sein. Für eine lange Zeit." Ich legte die Zeitung weg. "Wie meinst du das?"

"Ich bin auf den Weg ins Gefängnis. Für eine lange Zeit." "W-was? Warum? Li, ich brauch dich doch!", rief ich verzweifelt. Meine Welt brach nun vollends zusammen.

"Du brauchst mich nicht. Du brauchst niemanden. Ich habe meine Spuren nicht verwischt. Und meine Eltern werden mir nicht helfen." "Ich muss dir das Handy jetzt abnehmen", hörte ich eine Stimme im Hintergrund. "Ich hole dich da raus, hörst du? Ich verspreche es!" Und dann war die Verbindung tot.

Fassungslos starrte ich auf mein iPhone, als ich eine Person vor mir wahrnahm. "Hallo, Finn." Ich sah auf.

Henry McKinley.

"I-ich muss zur Uni", erwiderte ich und stand auf, verließ das Café.

Er wusste, wer ich war? Wusste er die ganze Zeit, wo ich zu finden war? Warum? Warum wollte er mich nicht?

"Finn, bleib stehen!" Als ich den Bus sah, rannte ich los und schaffte es gerade noch rechtzeitig durch die Tür.

Mein Herz raste, meine Hand verkrampfte sich um die Metallstange, an welcher ich mich festhielt.

Jetzt, wo ich Liam mehr denn je brauchte, verschwand er aus meinem Leben?!

An der Campus-Bushaltestelle stieg ich aus und lief in Richtung meines Verbindungshauses. Doch dort sah ich Ihn wieder: Henry McKinley.

Ich setzte mich auf eine Bank, atmete tief ein und aus, versuchte meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen.

"Ich hab gedacht, ich sehe dich nie wieder." Henry McKinley setzte sich neben mich. "Sie sollten es dir sagen, wenn du alt genug bist. Sie sollten dir sagen, warum ich das getan habe. Doch dann kam das mit Marcel in den Nachrichten und dann hatte ich keine Chance mehr, zu erfahren, wo du lebst und es selbst in die Hand zu nehmen.. Aber du sollst wissen, dass ich dich jeden Tag vermisst habe und ich dich liebe, Finn. Doch damals hätte ich mich nicht mehr um dich kümmern können, verstehst du?"

Ich sah auf die Bank. "Warum hast du mich weggegeben?", fragte ich leise. "Als ich deine Mum an den Krebs verlor, brach meine Welt zusammen. Sie war meine große Liebe, sie wird es immer bleiben. Ich habe versucht, für dich da zu sein, denn du warst gerade mal etwas über ein Jahr alt. Doch ich schaffte es nicht. Ich musste in Therapie und dort wurde ich vor die Wahl gestellt: dich in eine Pflegefamilie geben oder zu Verwandten."

Henry McKinley sah mich an, das spürte ich.

"Du warst immer das Kind, was wir uns gewünscht haben, Finn. Und wir waren so glücklich, als es geklappt hat. Und dann wurdest du geboren und dann kam die Diagnose."

Ich sah ihn an. "Ich hatte eine beschissene Kindheit", flüsterte ich kaum hörbar. Henry McKinley nickte. "Es tut mir leid. Aber als Sie mir gesagt haben, jemand hat sich unerlaubten Zugriff auf meine Akte verschafft, hatte ich wirklich Hoffnung, dass du das bist. Ich habe nämlich gehört, dass du sehr schlau sein sollst. Und das bist du." Henry sah auf die Harvard Universität, besser gesagt, auf das Hauptgebäude.

"Und ich habe gemerkt, wie du mich beobachtet hast. Meine Frau hat mir zugeredet, dich endlich anzusprechen. Und ich bin ihr so dankbar dafür. Ich habe dich sofort erkannt. Du siehst mir so verdammt ähnlich. Aber diese Intelligenz, das Streben nach Wissen, dieses Lächeln und wahrscheinlich deinen Charakter, hast du von deiner Mum. Sie hat hier auch studiert."

Zum ersten Mal seit der Begegnung mit ihm lächelte ich. "Wie war sie so?" "Wunderschön, klug. Zu den Menschen, welche sie liebte, war sie so gütig und hilfsbereit. Zu Anderen war sie eher schroff und unhöflich. Sie hatte immer das letzte Wort und wollte immer recht haben. Und sie hatte immer recht, glaub mir. Das hat mich wahnsinnig gemacht!" Ich musste lachen.

"Aber genau das vermisse ich am Meisten. Nach all den Jahren fühlt es sich immer noch genauso an, wie am ersten Tag, als ich sie verloren habe."

"Aber deine Frau-" "Sie weiß es", unterbrach er mich. "Und sie findet es okay."

Ich stand auf. "I-ich, ich sollte gehen", erwiderte ich dann. "Mich auf meinen Kurs vorbereiten. Ich bin hier erst seit ein paar Tagen." Henry nickte. "Was studierst du?" "Mein Hauptfach ist Kriminalistik, oder auch forensic science genannt."

Er lächelte breit. Was hatte das zu bedeuten?

"Wenn du magst, könnten wir ja vielleicht zusammen Abendessen? Es muss nicht heute sein, wenn du noch lernen musst, aber-" "Das wäre schön", unterbrach ich ihn zu meinem überraschen.

"Also, Ähm, ich hab nichts weiter vor und das Essen hier hängt mir jetzt schon zum Halse raus. Aber ich bekomme hier alles kostenlos und was anderes kann ich mir sowieso nicht leisten."

Henry lächelte. "Ich werde alles für dich zahlen, Finn. Und du kannst ja mal mit meiner Frau shoppen gehen. Ich kann damit nichts anfangen, aber sie liebt es. Und vor allem liebt sie Deko. Und wenn du was für die Uni brauchst, lass es mich wissen. Ich konnte 15 Jahre nicht für dich da sein, also möchte ich es jetzt sein. Wenn du mich lässt."

"Wenn du mir alles über dich und Mum erzählen würdest, wäre ich schon mehr als zufrieden."

Und wenn ich jetzt noch Liam helfen könnte, wäre alles irgendwie... wunderbar.

The Tape ∣ boyxboy ✔️Where stories live. Discover now