Kapitel 4 - Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

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Dee schreckte aus dem Schlaf hoch, ihr Puls dröhnte wie ein Presslufthammer in ihrer Halsarterie. Sie war verwirrt, ihre Augen suchten nach einem vertrauten Anblick, an dem sie sich orientieren konnte. Ihre Blicke schweiften unruhig durch den Raum, glitten über ihren Schreibtisch, den großen Fernseher, die Wäschekommode, und blieben schließlich an der Bettdecke hängen, die sie offenbar von sich gestrampelt hatte. Nur langsam gelang es ihr, die Panik zu kontrollieren, die sich ihrer bemächtigt hatte. Etwas sollte sie erledigen. Dringend erledigen!

***

Was war das für ein wirrer Traum gewesen? Er hatte sie sogar mehrmals in der Nacht heimgesucht. Dennoch waren ihr keine Einzelheiten in Erinnerung geblieben, nur dass sie ein ganz besonderes Amulett finden müsste.

Das Gefühl der Dringlichkeit, das sie auch noch eine ganze Weile nach dem Aufstehen nicht abzuschütteln vermochte, war mittlerweile fast vollständig verblasst. Zurück blieb eine dumpfe Müdigkeit, die es ihr unmöglich machte, sich die neuen chemischen Verbindungen zu behalten, die sie gerade von der Tafel abschrieb. Die Zahlen, Buchstaben und Striche verschwammen vor ihren Augen und formten sich zu einem einzigen Spinnennetz-artigen Gebilde. Wütend blinzelte sie, was jedoch auch keine Linderung brachte.

Das Klingeln zur Pause kam ihr wie eine Erlösung vor. In der Cafeteria kaufte sie sich eine Bananenmilch, trat damit ins Freie und sah sich suchend auf dem großen Schulgelände um.

An einem der steinernen Tische, die großflächig unter einer riesigen alten Platane angeordnet waren, entdeckte sie Jake. Sie gönnte sich einen kleinen Moment und betrachtete seine Rückansicht, wie er da auf der Tischplatte saß, die Füße auf der hölzernen Sitzbank davor, die Hände lässig hinter sich abgestützt. Er hatte einen seiner weiten Hoodies an, die Ärmel verdeckten fast vollständig seinen Handrücken. So könnte er auch für ein Fotoshooting posieren, überlegte Dee.

Als hätte er ihren Blick gespürt, wandte er den Kopf zur Seite. Dee sammelte sich, ging auf die Tischgruppierung zu und setzte sich neben Jake.

"Guten Morgen", sagte er und schenkte ihr dieses für ihn so typische entwaffnende Lächeln.

Eine Weile saßen sie einfach nebeneinander und schlossen Wetten darüber ab, wie viele der Schüler quer über die Blumenbeete liefen, anstatt den neu angelegten Kiesweg zu nutzen.

"Der nimmt den Weg", mutmaßte Jake, und wies mit dem Kopf in Richtung eines Jungen, der gerade über den Rasen gewackelt kam. Das Haar klebte ihm verschwitzt an der Stirn, er kämpfte mit seiner Schultasche und dem Sportbeutel, den er sich so ungeschickt umgehängt hatte, dass das Kordel ihm nun in den Hals schnitt.

Wider Erwarten trampelte der Junge ganz unorthodox durch die Blumenbeete. Dee grinste.

Jake fuhr sich mit beiden Händen durch seine lockigen Haare, beobachtete Dee eine Weile von der Seite und fragte dann unvermittelt:

"Was ist eigentlich mit dir? Hast du schon einen Tanzpartner für den Schulball?"

Dee blieb ganz kurz das Herz stehen, weil sie sich sicher war, dass auf diese Frage gleich eine Einladung folgen würde, und es verblüffte sie, wie sehr sie sich darüber freute.

Doch stattdessen sagte Jake: „ Ich werde ja mit Eve hingehen. Irgendwie haben wir das schon letztes Jahr vereinbart."

In Dees Magen schwappte die Bananenmilch plötzlich unangenehm hin und her. Sie versuchte, ihre versteinerten Gesichtszüge zu lockern, als sie sagte:

„Ach ja? Na, da freut sie sich bestimmt."

„Ja, und - was ist denn jetzt, hat dich denn schon einer gefragt?" hakte Jake mit echtem Interesse nach.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now