Kapitel 6 - Eine Freundschaft zerbricht

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Christina verstand nicht, dass Dees unverantwortliches Handeln auf die beiden Jungs offenbar überhaupt keinen Eindruck gemacht hatte.

Es ist ganz egal, welche Scheiße sie sich leistet, sie hecheln trotzdem hinter ihr her, wie dumme Hunde, dachte sie verbittert, und merkte dabei nicht einmal, dass sie ihre Hände zu Fäusten ballte, während ihre Nägel schmerzhafte Abdrücke in ihren Handflächen hinterließen.

Ihre Wut war selbst zwei Stunden später nicht verraucht, als sie die Haustür aufschloss. Sorgfältig schob sie ihre Nike-Turnschuhe in das kleine Regal im Flur und platzierte ihren Schulrucksack auf der unteren Stufe der schmalen Wendeltreppe, die in das obere Stockwerk zu ihren Schlafzimmern führte.

Der Geruch von Hackfleisch und Tomatensoße stieg ihr in die Nase. Wie zur Bestätigung knurrte ihr Magen.

Lindsay Willis, ihre Mutter, kam ein wenig abgehetzt aus der Küche, in der Hand eine große Schüssel Spaghetti Bolognese.

„Wie war es in der Schule, mein Schatz?", fragte sie, während sie die dampfende Pasta auf den gedeckten Esszimmertisch stellte. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ sich müde auf einen der abgenutzten Holzstühle fallen.

Christina blickte ihre Mutter an und war ein wenig erschrocken, wie sehr sie sich verändert hatte. Seit ihr Vater sie beide verlassen hatte, wirkte sie nur noch so wie jetzt gerade, ungepflegt, verbittert, und mit Ringen unter den Augen, als habe sie keine Sekunde geschlafen. Früher hatte sie öfter gelacht, und sich auch ganz gerne mal schick angezogen. Aber seit ihr Vater beschlossen hatte, dass er nochmal neu anfangen wollte mit einer anderen Frau und auch mit anderen Kindern, hatte sie sich offenbar aufgegeben, ließ das ohnehin schon kraftlose Haar strähnig herunterhängen und trug unförmige Männerhemden und schlechtsitzende Boyfriendhosen.

„Dee hat sich mal wieder völlig daneben benommen", beantwortete Christina die Frage. Ihre Stimme klang dabei so verzweifelt, dass ihre Mutter alarmiert aufblickte.

Langsam legte sie die müden Arme vor sich auf den Tisch und hob fragend die Augenbrauen. „Was war denn nun schon wieder?"

Ohne es zu wollen, brach Christina in Tränen aus. „Es ist einfach immer dasselbe mit ihr, ständig schießt sie irgendwelche Böcke ab und niemand zieht sie zur Verantwortung", schluchzte sie aufgebracht.

„Ja, das kann ich mir vorstellen!" antwortete Lindsay und nahm verständnisvoll die Hand ihrer Tochter. Christina war zum Mittelpunkt in ihrem Leben geworden, und so hatte sie sich als oberstes Ziel gesetzt, sämtliche Unannehmlichkeiten von ihr abzuwenden. Und diese Geschichte hier schrie ja geradezu nach Ungerechtigkeit.

„Ich hatte schon immer den Eindruck, dass sie ziemlich von sich eingenommen ist. Als ihre Freundin warst du meist in der schlechteren Position."

Christina blickte auf. Ihre Augen verengten sich unmerklich.

„Was meinst du damit?" fragte sie, und schob das Kinn nach vorne.

Ihre Mutter hob die Schultern und erwiderte ein wenig zögerlich: „Naja, sie ist ja schon immer ziemlich beliebt bei allen gewesen, insbesondere bei den Jungs, und ich hab mir schon häufiger Gedanken gemacht, ob sie dich nicht mal fallen lässt, wenn sie dich nicht mehr braucht. Aber erzähl doch erstmal, was ist denn überhaupt vorgefallen?"

Christina antwortete nicht sofort. Stattdessen ließ sie den Unfall von heute Morgen noch einmal Revue passieren. Manchmal konnte sie sich regelrecht am Fehlverhalten anderer ergötzen. Ganz besonders, wenn es dabei um  ihre Lieblingsfeindin Dee ging.

Sie blickte ihre Mutter an und bemerkte nebenbei, dass diese erfolglos versucht hatte, ihre Augen mit Mascara zu betonen. Es wirkte verunglückt, denn vor allem auf dem rechten Auge besaß Lindsay nur noch wenige Wimpern. Christina empfand Mitleid, aber auf eine gewisse Weise schämte sie sich auch für das wenig ansprechende Äußere ihrer Mom.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now