Kapitel 50 - Smugglers Cove

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Dee band sich ihren weißen Hoodie um die Schultern, als ihr Mobiltelefon aufleuchtete.

Jake!

Sie blickte auf den Text, der auf ihrem Display erschienen war, ohne dass sie die Nachricht öffnete.

„Hast Du Zeit?"

Unentschlossen blieb sie mitten im Raum stehen. Sie biss die Zähne aufeinander. Jake, den sie manchmal, ganz für sich allein und auch nur für ihre eigenen Gedanken bestimmt, Jacks nannte, geisterte noch immer durch ihre Träume. Durch ihre normalen Träume! Solche, wie wahrscheinlich jeder gesunde Teenager sie hatte.

Aber würde Jake am Ende nicht doch wieder mit Christina flirten? Oder auch mit Eve? Und würde er nochmal ihre Nachricht ignorieren, weil sie spät abends geschickt worden war?

Dee schüttelte den Kopf.

Gerade freute sie sich auf Richie. Seit der Nachricht von vorhin, mit der Bitte um ein Date  - und als solches durfte man es doch bezeichnen - bekam sie nur vom Gedanken daran hektische rote Flecken im Gesicht.

Kurzerhand tippte sie

„Sorry, heute kann ich leider nicht"

und versendete die Nachricht an Jake.

Dann hängte sie sich ihre Beach Bag über die Schulter, schrieb ihrem Dad eine kurze Notiz, dass sie vor Mitternacht zurück sein würde und machte sich auf den Weg Richtung Strand.

Je näher sie dem Pazifik kam, desto salziger roch die Luft. Das Geschrei der Möwen empfing sie und der Wind spielte mit ihrem Haar.

Ihr Herz klopfte schnell, was vermutlich nicht auf das zügige Tempo ihrer Schritte zurückzuführen war. Eine Euphorie machte sich breit, die sie nicht richtig einordnen konnte. Ein vages Gefühl, eine Vorahnung, dass heute etwas Ereignisreiches passieren würde. Etwas Schönes. Etwas, das mit Richie zusammenhing.

***

Richie saß auf der kleinen Mauer, die die Promenade vom Eingang zum Strand abgrenzte. Es war fast dieselbe Stelle, an der er damals mit Jordan gesessen hatte, damals, als plötzlich Dees unerwartete Nachricht mit der Bitte um Versöhnung eintraf. Diesmal war er viel hoffnungsvoller und aufgeregter.

Er beobachtete die Menschen, die zu dieser Uhrzeit noch immer zahlreich unterwegs waren. Einige Familien mit Kindern, die die Eiswagen frequentierten, junge Leute, mit ihren Surfbrettern unter den Arm geklemmt, oder Paare, die Hand in Hand die Promenade entlang schlenderten.

Und dann sah er Dee auf sich zukommen. Sie bewegte sich zügig, das dunkle Haar vom Wind zerzaust, so dass sie es sich ständig aus dem Gesicht streichen musste.  Sie trug Jeans und ein enges schwarzes T-Shirt, das ihre Kurven zur Geltung brachte. Einen weißen Hoodie hatte sie sich um die Schultern gehängt.

Sein Herz klopfte so heftig, dass man bei ganz genauem Hinsehen ein Vibrieren seines Shirts bemerken musste.

Dee verlangsamte ihre Schritte und blieb schließlich vor ihm stehen, ein zaghaftes Lächeln im Gesicht.

Richie fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes, schwarzes Haar.

„Hey", sagte er und kam sich irgendwie blöd vor. Random.

Aber Dee wirkte genauso verunsichert, was ihn ein wenig tröstete.

Ermutigt stand er auf und blickte sie offen an.

„Ich dachte mir, wir laufen in Richtung Smugglers Cove. Zu der Jahreszeit sieht man oft Wale vor der Küste. Vielleicht haben wir Glück."

„Ja, das wäre wirklich toll", erwiderte Dee, und in ihre Augen trat ein begeistertes Funkeln.

Sie schwiegen, während sie sich einen Weg durch die Menge der Touristen und der Einheimischen bahnten. Erst als sie die belebte Promenade verlassen hatten und einen schmalen, sandigen Weg durch die Dünen einschlugen, richtete Richie das Wort an Dee.

„Ich habe mir Sorgen gemacht nach dieser Zeltaktion. Sag mir bitte erstmal, ob es dir wirklich gut geht."

„Gestern Nacht hatte ich noch ein ziemliches Brennen im Hals und außerdem war ich todmüde. Aber mittlerweile ist es okay."

Dee stockte, atmete einmal geräuschvoll aus, bevor sie fortfuhr,

„ich habe dann einen ziemlich weirden Traum gehabt, über Briefe, die mein Urgroßvater anscheinend geschrieben hat. Und das Krasseste an alldem ist, dass auf unserem Dachboden tatsächlich solche Briefe existieren."

Richie hob verblüfft die Augenbrauen. Und überraschte Dee dann mit seiner Aussage:

„Weißt du, das ist alles eine riesige Scheiße, und wir irgendwie darin gefangen. Mir ist klar, dass uns nichts anderes übrig bleibt als uns dem Ganzen zu stellen. Nur nicht heute. Ich möchte gerne einfach nur einen schönen Tag mit dir verbringen. Wollen wir nur für heute so tun, als wäre das alles nicht passiert, und wir ganz normale Menschen, die Wale beobachten?"

Dee lächelte zaghaft. „Du meinst eine Auszeit? Eine Auszeit vom Wahnsinn?"

„Genau! So kann man es auch nennen."

„Bin dabei!"

***

Der Wanderweg zum Smugglers Cove führte sie größtenteils durch die Dünenlandschaft Venturas. Als ausgewiesener Naturpark bestach das Gebiet mit einer berauschenden Kulisse.
Wanderwege verliefen parallel zum Ozean, dessen Wasseroberfläche an diesem sonnigen Tag glitzerte wie ein Meer voller Diamanten. Die Dünen waren üppig bewachsen und wirkten wie rollende Hügel, wenn der Wind die Spitzen der Gräser hin und her bewegte.

Jetzt verstehe ich auch, woher der Begriff Rolling Hills kommt, dachte Dee.

Etliche Vögel nisteten hier, und die ansässigen Kaninchen waren so unbedarft, dass sie sich von Wanderern nicht stören ließen. Das wusste allerdings auch der Weißkopfseeadler, der in großer Höhe seine Kreise zog und auf ein üppiges Dinner spekulierte.

Begeistert zog Dee ihr Telefon aus der Hosentasche, kniete sich auf den sandigen Boden und versuchte die Eindrücke mit der Kamera einzufangen. Ganz kurz fuhr ihr ein unangenehmer Schauer den Rücken herunter und fast erwartete sie, die altbekannte und so gefürchtete Kapuze in ihrem Sucher vorzufinden. Doch dann beugte Richie sich über sie und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die der raue  Küstenwind ihr über die Augen geweht hatte. Das Gefühl der Angst und der dunklen Vorahnung verschwand.

Nach etwa zwei Meilen endete der sandige  Pfad und wurde durch einen hölzernen Bohlenweg ersetzt. Von hier war es nicht mehr weit zu Smugglers Cove, der versteckten Bucht, deren geheimnisvoller Name Abenteuer und Romantik versprach.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now