Kapitel 48 - Vertuschungsversuch

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Gregory manövrierte den Dodge gekonnt in eine Parklücke direkt vor dem modernen Apartmentkomplex. Noch immer trommelte der Regen auf die Windschutzscheibe und innerhalb weniger Sekunden bildeten sich auf der glatten Fläche unzählige Mikropfützen, die einen Blick nach draußen erschwerten. Das Licht der Straßenlaternen brach sich in den Wasserschlieren wie bei einem Kaleidoskop.

Erwartungsvoll sprang Gregory aus dem Wagen und eilte die wenigen Stufen zur Haustür hinauf. Das letzte Mal als er hier gewesen war, hatte Chris die Tür aufgeschlossen, heute musste er läuten. Ungeduldig studierte er die Namen auf den Klingelschildern.

Hanson, Groomer, Worthington, Dillinger, Boyle

Da! Boyle! Das musste es sein.

Dynamisch presste er den Zeigefinger auf den Klingelknopf. Ungeduldig auf den Füßen hin und her wippend, wartete er, dass Chris ihm öffnete.

Ich werde ihm sofort sagen, was er mir bedeutet, überlegte er aufgeregt.

Nichts rührte sich. Geräusche eines vorbei fahrendes Auto drangen in sein Gehör. Gleich würde Chris Stimme aus der Fernsprechanlage tönen. Gleich.

Aber nichts geschah.

In diesem Moment beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl.

Wieder betätigte er den Klingelknopf, länger dieses Mal. Auf seinen Unterarmen breitete sich Gänsehaut aus. Hinter der gläsernen Eingangstür bemerkte er eine schattenhafte Bewegung. Aus dem Inneren des Gebäudes kam eine Gestalt auf ihn zu. Gregory blickte aufmerksam durch die Scheibe und erkannte einen älteren Mann, der einen Schlüsselbund in der Hand hielt und ihm damit zuwinkte. Wenige Sekunden später wurde geöffnet.

„Sie wünschen bitte?"

„Guten Abend", erwiderte Gregory mit zitternder Stimme. „Ich möchte zu Chris...", demonstrativ warf er einen Blick auf das Klingelschildchen, „...Boyle. Er öffnet mir leider nicht, aber er weiß, dass ich komme."

Der ältere Herr, den Gregory für den Hausmeister der Wohnanlage hielt, runzelte die Stirn.

Er glaubt mir nicht, dachte Gregory besorgt.

„Ich habe seine Katze in Obhut genommen. Wir wollten gerade noch ein paar Einzelheiten zur Pflege besprechen", fügte er als Erklärung hinzu und wich gleich darauf beschämt dem prüfenden Blick des Portiers aus. Oh wie kam er sich schäbig vor. Gerade hatte er Chris ein weiteres Mal verleugnet.

Ich kümmere mich um seine Katze! Mein Gott, was für ein Blödsinn. Konnte er immer noch nicht zu ihrer Beziehung stehen? Nein, er würde sich wirklich bemühen, sofern es Chris gut ging.

Warum dachte er so etwas? Wieso sollte es seinem Freund denn nicht gut gehen?

Der Hausmeister trat zur Seite. „Ich begleite Sie nach oben. Apartment 30, wir können den Fahrstuhl nehmen."

Die Wohnungstür von Apartment 30 sah völlig unspektakulär aus. Gregory fragte sich, weshalb seine Knie bei dem profanen Anblick zu schlottern begannen. Zögernd drückte er den kleinen runden Klingelknopf, der links an der Wand neben dem Türrahmen angebracht war. Von drinnen konnte man das leise Alarmgeräusch hören.

Er wird nicht aufmachen, dachte Gregory, während sich ein kaltes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen. Dann wandte er sich an den Portier, der ruhig und abwartend neben ihm stand.

„Er ist informiert, dass ich komme. Wir hatten gerade erst telefoniert."

Unschlüssig blickte der Hausmeister auf die verschlossene Tür. Dann klopfte er geräuschvoll.

„Entschuldigen Sie, Mr. Boyle! Hier ist Besuch. Sind sie zu Hause?"

Keine Reaktion.

„Könnten Sie bitte öffnen und nachsehen? Ich bin etwas besorgt", sagte Gregory.

Der Portier zögerte, hob erneut die Hand und hämmerte mit der geschlossenen Faust auf das glatte Material.

„Haaaalloooo?"

Noch immer Stille.

Er kratzte sich mit seinen fleischigen Fingern hinter dem rechten Ohr. Einen Moment überlegte er noch. Schließlich zückte er jedoch seinen Universalschlüssel und schob ihn in das Türschloss.

Gregory wusste im Moment des Eintretens dass etwas nicht stimmte, ohne später genau sagen zu können, was ihn zu dieser Annahme veranlasst hatte. War es der leicht metallische, süßliche Geruch, dessen winzige Moleküle durch die Luft getragen wurden und die langsam aber stetig seine Nasenschleimhaut eroberten? Oder war es das Fehlen jeglicher Geräusche, bis auf eins: Plitsch! Noch einmal: Plitsch.

Gregory brauchte nicht lange, um den Ton zu identifizieren. Ein Tropfen, der auf eine Wasseroberfläche traf.

Ein eisiges Gefühl kroch seine Kehle hinauf. Alles in ihm sträubte sich, weiter zu gehen. Und dennoch dauerte es nur Sekunden, bis er den Flur durchquert hatte, und dort vor einer halb geöffneten Zimmertür innehielt. Aus dem Raum drang gedämpftes Licht und Wasserdampf. Er spähte ängstlich hinein und konnte grau melierte Fliesen erkennen. Das Badezimmer.

Seine Füße fühlten sich an als wären sie aus Blei. Während der wenigen Schritte gingen ihm tausende Dinge durch den Kopf.

Wie alt wurde überhaupt ein Kater? Was mochte der teure Teppichboden im Flur gekostet haben? Weshalb hatte Chris so kurz nach dem Telefonat Wasser in die Wanne eingelassen?

Und dann dachte Gregory gar nichts mehr. Sein Gehirn brauchte lange, bis es den wahrgenommenen Bildern einen Sinn zuordnen konnte.

Er hörte, wie der Hausmeister, der ihm offenbar auf dem Fuß gefolgt war, ein Stöhnen von sich gab, das klang wie das eines sterbenden Tieres.

Grauenvolle Bilder, von der Sorte, die einen Horrorfilmregisseur das Fürchten lehren konnten, drängten sich in Gregorys Bewusstsein.

„Um Gottes Willen", keuchte der Portier entsetzt, „ich rufe die Polizei!"

„Ich bin die Polizei!"

Wie in Trance zog Gregory seine Marke und hielt sie nach oben.

„Rufen sie den Coroner an, bitte."

Gregory registrierte, wie der Mann davon stolperte. Hektisch sah er sich in dem luxuriösen Badezimmer um, konsequent die Blutspritzer auf den Fliesen ignorierend. Er suchte etwas. Wo war das Mobiltelefon von Chris? Sein analytisches Polizistengehirn war alarmiert. Wenn man die Telefonverbindungen kontrollieren würde - aus welchem Grund auch immer - dann könnte man ihn mit diesem Unglück in Verbindung bringen. Im besten Fall dürfte er dann nicht weiter ermitteln, im schlimmsten stünde er unter Mordverdacht, jedenfalls wenn sich herausstellen sollte, dass dieses Gemetzel hier kein Suizid war.

Wo war das Telefon? Gregory scannte jede Ecke des Raums. Panik ergriff ihn. In dem Moment, als er die Schritte des Hausmeisters vernahm, der gerade wieder die Wohnung betreten hatte, entdeckte er das Gerät auf der Ablage neben dem Toilettenpapier. Mit einer einzigen fließenden Bewegung griff er danach und ließ es in seine Hosentasche gleiten.

Er gestattete sich keine Sekunde der Trauer. Allerdings verhinderte der Schock sowieso jedwede Regung. Sein Körper hatte auf Autopilot geschaltet, sein Gehirn griff auf Strukturen zurück, die ihm vertraut waren: kriminalistische, analytische Überlegungen. Der Schmerz, grauenvoll, reißend und niederschmetternd, würde kommen. Aber nicht jetzt.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now