Kapitel 16 - Auf der Suche

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Mit der Aussicht auf die nahenden Schulferien vergingen die Tage wie im Flug, und ehe Dee es sich versah, kam der Mittwoch, und somit auch der Termin bei der spirituellen Kollegin ihrer Mutter. Plötzlich war sie gar nicht mehr so überzeugt von der Idee, sich mit ihr zu treffen. Im Grunde wusste Dee überhaupt nicht, was sie ihr erzählen sollte. Konnte es nicht wirklich sein, dass sie zum Beispiel von dem gesuchten Mädchen geträumt hatte, weil sie ihm unbewusst schon begegnet war? Und konnte dieser andere Traum, der sie zunächst mit Angst und Grauen erfüllt und ihr dann einen Beschützer gesandt hatte, nicht einfach nur Ausdruck ihrer innerlichen Zerrissenheit sein? Wer sagte denn, dass dahinter eine spirituelle Bedeutung stehen musste?

Ein einfaches Gespräch über ihre Mutter dagegen, frei von Analyse oder Interpretationsversuchen, das wiederum war etwas das Dee    noch immer brauchte, und das sie dann doch motivierte, den Termin wahrzunehmen.

Also lief sie die zwei Blocks zur nächsten Bushaltestelle, wo sie  in den Bus der Linie 6 stieg, der sie nach Oxnard, in die West Cedar Street, bringen würde.

Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde - Zeit, die Dee nutzte, einfach abzuschalten, den Schrecken der letzten Tage, aber auch die Alltagssorgen und die Verwirrung um Jake und Richie auszublenden. Sie steckte sich ihre Kopfhörer in die Ohren, ließ ihre Blicke aus dem Fenster schweifen und erfreute sich am imposanten Anblick des Pazifiks, dessen Wellen im hellen Sonnenlicht wie Milliarden kleiner Diamanten funkelten.

Dee lauschte der Stimme von Taylor Swift, während der Bus über den Highway 101 rollte, beobachtete gelegentlich eine Frau im mittleren Alter, die ihr diagonal gegenüber saß. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem akkuraten Pagenschnitt frisiert, sie trug einen edlen, hochwertigen Hosenanzug in Marineblau und dazu cremefarbene Ballerinas. Die Frau wirkte so souverän, gelassen und würdevoll, dass Dee sich fragte, welche Entscheidungen sie wohl in ihrer Jugend getroffen haben mochte, um nun eine solche Selbstsicherheit auszustrahlen.

Die Dame schien Dees Blicke gespürt zu haben, denn plötzlich wandte sie ihr das Gesicht zu und blickte sie forschend an. Dee fühlte sich ertappt, und lächelte unsicher. Die Frau erwiderte das Lächeln und sagte dann höflich: „Es ist doch eine sehr schöne Strecke am Wasser entlang, nicht wahr? Egal, wie oft ich hier vorbeikomme, die Natur beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue."

Dee bekam nur den zweiten Teil des Satzes mit - ...die Natur beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue, daher nickte sie nur, und nahm hastig die Kopfhörer aus den Ohren.

Eine Weile schwieg die Frau ebenfalls. Doch dann sagte sie  unvermittelt: „Du erinnerst mich an meine Tochter."

Dee zog fragend die Augenbrauen hoch und antwortete: „Oh, wirklich? Wohnt ihre Tochter denn in Oxnard?"

Die Frau wirkte plötzlich sehr müde, schüttelte den Kopf, bevor sie schließlich antworte: „Meine Tochter ist tot. Sie ist mit dem Auto hier in der Nähe die Klippen heruntergestürzt. Es ist eine Weile her, aber damals war der Unfall in allen Medien." Hilflos hob sie die Hände. „Man hat danach Begrenzungspfosten aufgestellt, dass sowas nicht nochmal passiert."

Dee starrte die Dame an, die sie gerade noch für souverän und zufrieden gehalten hatte. Ihr schweres Schicksal hatte man ihr nicht im Geringsten angesehen. Sie blieb ihr eine Antwort schuldig. Als sie schließlich in Oxnard ausstieg, war sie noch immer sprachlos.

Das Haus von Carla Houseman war klein, aber fein. Ganz in hellem Grau gestrichen, stand es in einem ebenfalls kleinen Garten, der überwiegend mit Gladiolen und Sonnenblumen bepflanzt war. Über einem gepflegten Holzzaun hingen die Blüten mehrerer Rhododendren. Der kurze Weg zum Haus war mit weißen Steinen gesäumt. Etwas zögerlich öffnete Dee das Gartentor und erschrak heftig über das protestierende Quietschen der verrosteten Türangel, das laut genug gewesen sein musste, um ihr Eintreffen anzukündigen. Dennoch musste sie eine Weile warten, bis man ihr auf ihr Klingeln hin öffnete.

Carla Houseman war völlig anders als Dee sie sich vorgestellt hatte. Sie mochte um die Fünfzig sein, hatte blonde Haare, die sie mit einem Haargummi im Nacken zu einem lockeren Zopf gebunden hatte, was ihr ein jugendliches Aussehen verlieh. Das Jeanshemd, das sie trug, schien ihr eine Nummer zu groß zu sein, passte modisch aber ganz gut zu den engen Leggins und den schwarzen Flip Flops. Ihre Füße waren sonnengebräunt, die Fußnägel hatte sie sehr geschmackvoll in einem pastellfarbenen Türkiston lackiert. Dee war ein wenig irritiert, aber auf keine unangenehme Weise. Sie hatte vielleicht jemanden in alternativer, wallender und am besten noch selbst gebatikter Kleidung erwartet, den Geruch von Räucherstäbchen im dauergewellten Haar. Carla wirkte eher wie eine Reiseleiterin. Als Dee ihr das spontan mitteilte, schmunzelte sie und antwortete freundlich: „Naja, diese Vorstellung mag in gewisser Weise doch auch zutreffen, denn vielleicht werde ich dich ja tatsächlich auf eine Reise schicken, nur dass es eben kein Pauschalurlaub mit All-Inclusive-Verpflegung wird." Sie reichte Dee zur Begrüßung die Hand und überraschte sie ein weiteres Mal mit einem äußerst festen Händedruck. Dann bat sie sie freundlich hinein.

Wie zuvor der Garten, so trug auch das Innere des kleinen Hauses die Handschrift von Carlas gutem Geschmack und ihrem Blick für feine Details. Überall auf den hellen Polstermöbeln fanden sich Kissen, deren Bezüge von ihr liebevoll upcycelt worden waren, antike Küchengeräte, die vielleicht vor 100 Jahren zum Einsatz gekommen waren, zierten Schränke und Kommoden. Dee betrachtete fasziniert eine wunderschön bemalte Kuchenform aus Porzellan.

„Ich liebe diese Zeitzeugen aus vergangen Tagen", sagte Carla versonnen. „Wer weiß, was diese Kuchenform so alles zu erzählen wüsste, wenn sie denn könnte."

Sie setzte sich an den großen Esstisch aus Eichenholz und wies Dee an, ebenfalls Platz zu nehmen.

„Mein Beileid, Dee, zum Verlust deiner Mutter. Das muss wirklich sehr schwer für dich sein." Dieser einfache Satz brachte Dees mühsam errichtetes Bollwerk, hinter dem sie ihre Trauer versteckt hatte, zum Wanken. Aber hier, im Haus einer Fremden, in Tränen ausbrechen? Das hatte sie sich doch anders vorgestellt. Zornig biss sie sich auf die Lippen, realisierte den kurzen, spitzen Schmerz, der ihr half, sich wieder zu fangen.

„Danke „, erwiderte sie mit fester Stimme, „haben Sie  sie denn gut gekannt?" Carla Houseman lächelte bei der Erinnerung und antwortete: „Oh ja, doch, das kann man so sagen. Wir haben fast 5 Jahre zusammen gearbeitet."

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now