Kapitel 42 - Jordan

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Carla schwieg eine Weile, aber Dee konnte sie atmen hören. Gerade als sie nachhaken wollte, sagte Carla:

„Ich verstehe, dass du nichts mit der ganzen Geschichte zu tun haben willst und auch, dass du kurz davor bist, die Nerven zu verlieren. Aber eines kann ich dir mit Sicherheit sagen, Dee, du kannst im Leben vor nichts davon laufen. Das Leben ist ein Geschenk, ja, aber eins, das du nicht zurückgeben darfst. Stell dir vor, du steigst in den Wagen einer Achterbahn. Da kannst du auch nicht während der Fahrt plötzlich aussteigen. Das hier ist eine Ausnahmesituation, aber du bist nicht alleine. Hast du eine Ahnung, wie glücklich du dich schätzen kannst, solche Freunde zu haben? Freundschaft wiegt im Leben so viel mehr als Äußerlichkeiten, Erfolg oder Reichtum. Gute Freunde sind im Grunde das gleiche wie Familie."

Statt einer Antwort seufzte Dee nur.

„Was ihr bisher gemacht habt, nämlich so viele Informationen zusammenzutragen wie ihr finden konntet, ist schon mal ein guter Weg", fuhr Carla fort, „jetzt möchtest du mehr über deinen Urgroßvater wissen, was ich sinnvoll finde. Meine Klienten würde ich in so einem Fall in Hypnose versetzen, damit sie sich ihrem Unterbewusstsein öffnen, aber ich würde sagen, dein Zugang zum Unterbewussten ist wahrlich offen. Daher rate ich dir, deine Träume aufzuschreiben, am besten noch in der selben Nacht, in der du träumst. Dann gehen die auch keine Details verloren."

„Wir hatten überlegt, eine Schwitzhütte zu bauen, wie das schon frühere Völker getan haben", offenbarte Dee.

„Davon kann ich euch nur abraten. Das ist gefährlich, wenn es nicht fachmännisch konstruiert wird."

Dee zögerte. Natürlich hatte Carla Recht mit ihrer Warnung, aber ihr Entschluss, es mit diesem Ritual zu versuchen, war in gewisser Weise unumstößlich. Und dazu noch etwas, das sie nicht alleine entscheiden konnte. Richie, Jake und Bones waren in diesen risikoreichen Plan genauso involviert wie sie selbst. Daher zog sie es vor, das Thema jetzt und hier ruhen zu lassen.

Stattdessen sagte sie:

„Wenn ich meine Träume aufgeschrieben habe, was genau wird mir das bringen?"

Wieder ließ Carla sich mit der Antwort Zeit. Dann sagte sie nachdenklich:

„Deine Träume scheinen hellsichtiger Natur zu sein. Um ehrlich zu sein, vermute ich, dass dir auf diese Weise offenbart wird, wie ihr dieses Drama beenden könnt."

Dee hörte Carla seufzen. Nervös fragte sie sich, ob das schon alles an Informationen gewesen war, und ob das Gespräch dem Ende entgegen ging.

Was Carla dann sagte, überraschte Dee.

„Darf ich dir eine Frage stellen? Habt ihr nie darüber nachgedacht, zur Polizei zu gehen?"

Doch, natürlich! Aber was ist, wenn mir niemand glaubt? Wenn sie denken, ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung, hervorgerufen durch den Unfalltod meiner Mutter?

„Ich möchte nicht in einer Zwangsjacke enden", antwortete sie so illusionslos, dass Carla keinen Sinn darin sah, ihr diese Möglichkeit näher ans Herz zu legen.

Dafür riet sie eindringlich, ein Notizbuch anzuschaffen und es griffbereit auf dem Nachttisch zu platzieren.

Dee kaute abwesend an der Innenseite ihrer Unterlippe. Ihre Gedanken schweiften ab, während Carla versuchte, ihr den Sinn eines Traumtagebuchs zu erläutern.

Könnte Gregory Masterson vielleicht doch eine Überlegung wert sein?

Der Gedanke, wie sie Gregory aufsuchen und ihm all ihre Erlebnisse offenbaren würde, formte sich in ihrem Kopf wie eine Kaugummiblase, wurde größer und größer, bis sie schließlich zerplatzte. Es war eine Option. Aber noch konnte sie sich dazu nicht durchringen.

***

Entsetzt starrte Jordan die Spiegelung im Fensterglas an. Seine Finger wurden taub, genauso wie seine Lippen.

Loslassen - plötzlich ein verlockender Gedanke. Der einzige Gedanke.

„Jordan?"

Im selben Augenblick, als Anne wieder in sein Blickfeld trat, fiel die Hoffnungslosigkeit von ihm ab.

Das taube Gefühl ließ nach und der quälende Gedankengang verschwand wie die letzten Nachwirkungen eines Traumgeschehens.

Anne griff mit ihren schmalen Fingern nach Jordans kräftiger Hand und half ihm, sich über das Fenstersims ins Innere ihres Zimmers zu stemmen.

Als er festen Boden unter den Füßen verspürte, schüttelte er sich, als ob er dadurch die Erinnerung an die Gefühlslähmung loswerden könnte.

Anne lächelte unsicher.

„Hey, was machst du denn hier?", fragte sie und konnte die Überraschung nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen.

Ich bin gekommen um unsere Sache zu beenden, dachte Jordan.

„Keine Ahnung, ich hab's irgendwie keine Sekunde länger ohne dich ausgehalten", hörte er sich sagen.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt