Kapitel 45 - Die Ruhe vor dem Sturm

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Am Freitagabend, nachdem die Schüler offiziell in die Sommerferien entlassen worden waren, traf sich der Großteil des Jahrgangs spontan am Strand. Diesmal tummelten sich noch mehr junge Leute an den Feuerstellen als bei der letzten Strandparty. Nur wenige waren bereits in die Ferien abgereist. Bei einer Feriendauer von zwei Monaten blieb dafür noch genug Zeit.

Viele fremde Gesichter waren da, Dee kannte bei weitem nicht alle. Sie hockte neben Isabelle im Sand und beobachtete eine junge Möwe dabei, wie sie geschickt versuchte, sich aus einer geöffneten Chipstüte zu bedienen. Die vielen Menschen störten das Tier dabei offenbar überhaupt nicht.

Allegra saß auf einer kleinen Decke neben Ethan und unterhielt sich leise mit ihm. Er wirkte sehr ruhig heute, und auch schon die ganzen letzten Tage. Seit damals, als er einfach nicht erschienen war, obwohl er zuvor euphorisch den Abend mit geplant hatte, hatte sich Ethans Verhalten verändert. Nicht abrupt und mit einem Paukenschlag, sondern eher ganz allmählich.

Richie saß mit Jordan, Bones, Jake und Christina um eine der Feuerschalen. Dee wusste, dass er überlegte, ob man sich mit all den Dingen, die passiert waren und die sie herausgefunden hatten, nicht doch an die Polizei wenden sollte. Und wenn ja, wie man es am besten erklären könnte, ohne Gefahr zu laufen, gleich in die Psychiatrie eingewiesen zu werden.

Bones starrte in die Flammen, während er gedankenverloren an seiner Zigarette zog. Auch ihn hatten die Ereignisse der letzten Tage schwer mitgenommen.

Dee nahm sich eine kalte Cola aus der Kühltasche, die sie mitgebracht hatte, und gesellte sich zusammen mit Isabelle zu der kleinen Gruppe am Feuer. Sie mussten ein wenig zusammenrücken, damit die beiden Mädchen in die Runde passten, und Christina nutzte die Situation für sich und legte vertraulich den Kopf auf Jakes Schulter. Dee presste wütend ihre Zähne aufeinander. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie sich zwischen Jordan und Richie setzte.

„Hey,", sagte Richie leise, „wie geht's dir heute?".

Dee, froh über die Ablenkung, antworte: „ Es ist ok, denke ich. Ich hatte noch ein Gespräch mit Carla Houseman, weißt du, mit der Arbeitskollegin meiner Mutter?".

Richie nickte und bedeutete ihr, mit ihrer Erzählung fortzufahren.

„Sie hat mir vorgeschlagen, alle Träume, die ich habe, aufzuschreiben. Also, sowas wie ein Traumtagebuch zu führen. Ach ja, und von unserer Idee mit dem Ritual in der Schwitzhütte hat sie uns sehr deutlich abgeraten."

„Oh, das hättest du ihr vielleicht auch besser nicht erzählen sollen", sagte Richie mit einem skeptischen Blick.

Doch Dee winkte ab. „Sie hat mir ihre Meinung dazu gesagt, aber daran hindern wird uns sowieso keiner können."

Kurz sah sie nun auf und begegnete dabei Jakes Blick. Er beobachtete sie über die Flammen des Feuers hinweg. Als sich Dees Mundwinkel zu einem zögerlichen Lächeln hoben, starrte Jake unweigerlich auf ihre vollen Lippen, die sich so unglaublich weich anfühlen konnten, vor allem, wenn man sie zärtlich küsste. Gerade wirkten sie schutzlos und verletzlich, und er musste sich eingestehen, dass er das unglaublich anziehend fand.

Christinas plump vertraulicher Annäherungsversuch ließ ihn dagegen relativ kalt.

Jake registrierte allerdings auch, wie sehr sich Richie um Dee bemühte und dabei zumindest nicht vollkommen baden ging, und das, obwohl er selbst und Dee sich so nahe gekommen waren.

Das verletzte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Und trotzdem unternahm er nichts. Wie schon so oft in seinem Leben hatte Jake keine Motivation, wirklich um etwas zu kämpfen. Vielleicht, weil er sich häufig nicht bemühen musste - um die Sympathien anderer beispielsweise, denn die flogen ihm schon von alleine zu. Dass er stattdessen in schulischen Dingen oft scheiterte, weil er einfach zu wenig dafür tat, das störte ihn zwar, aber er war viel zu sehr mit den schönen Aspekten des Lebens beschäftigt, und so nahm er Misserfolge hin, ohne sich darüber allzu viele Sorgen zu machen.

Seine Gefühle zu Dee verwirrten ihn entsprechend, weil er sich noch nicht in der Lage sah, für so etwas wie eine feste Beziehung Verantwortung zu übernehmen. Und er wusste genau, dass Dee, mit ihren hohen moralischen Ansprüchen, nicht an einer lockeren Affäre interessiert sein würde. Aber wollte er sich auf etwas Verbindliches einlassen? Eigentlich hatte er das immer verurteilt. Wozu sich dauernd von seiner besten Seite zeigen zu müssen? Das war doch eigentlich nichts für ihn.
Dumm nur, dass er ständig den Wunsch hatte, mit ihr Zeit zu verbringen. Er mochte ihren Humor und konnte nicht umhin anzuerkennen, dass sie verdammt hübsch war. Wenn er ehrlich war, dann fand er Dee rattenscharf. Verwirrt und genervt von dem Chaos seiner Gefühle, griff er über Christinas Schulter hinweg in den schwarzen Vance-Rucksack, und beförderte eine Flasche Barcardi zum Vorschein. Er schraubte den Verschluss auf, setzte den Flaschenhals an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Ohne Dee ein weiteres Mal anzusehen, bot er Christina den Alkohol an und legte dann demonstrativ den Arm um ihre Schultern.

Dee sah enttäuscht zur Seite. Sie verstand Jakes Verhalten nicht. Obwohl sie ihm das ganze Dilemma mit Christina anvertraut hatte, fing er nun an, hemmungslos mit ihr zu flirten? Intuitiv fühlte sie zwar, dass Jake dafür einen Grund haben musste, und dass es nicht der sein konnte, dass er sich plötzlich unwiderstehlich zu Christina hingezogen fühlte. Aber es verletzte sie trotzdem, und sie verbuchte es auf das Konto der Dinge, die sie nur schwer verzeihen würde.

„Ich bin mir ehrlich gesagt auch nicht so ganz sicher, ob das mit der Schwitzhütte so eine sinnvolle Idee ist", sagte Richie gerade. Dee wandte sich ihm wieder zu und beschloss, Jake aus ihren Gedanken zu streichen, zumindest vorerst.
„Es ist ein Ritual, das schon seit mehreren hundert Jahren ausgeführt wird. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es gefährlich ist", überlegte sie.

Richie hob die Schultern. Er sah aus, als würde er das gesamte Vorhaben infrage stellen. „Keine Ahnung, ich meine ja nur, wir haben sowas noch nie gemacht. Stell dir vor, wir werden da ohnmächtig und dann sterben wir an einer Kohlenmonoxidvergiftung." Er sah besorgt aus. So ernst hatte Dee ihn noch nie erlebt.

Einem plötzlichen Impuls folgend, fuhr sie mit den Fingern durch Richies volle dunkle Haare. „Fühlt sich gut an", sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
„Eigentlich wollte ich mir ja einen Buzz-Cut schneiden lassen", gestand Richie daraufhin und war froh über den kurzzeitigen Themenwechsel.

Dee blickte ihn eine Weile prüfend an und sagte dann: „Naja, könntest du auch. Solange du keine solchen Vorratskammern hast."
„Solange ich was nicht habe?"

Dee zeichnete mit der Fingerspitze den Bereich seitlich der Stirn nach, der sich bei manchen Männern, ähnlich einer Einflugschneise, dramatisch lichtete, der jedoch bei Richie noch mit ausreichend Haar bedeckt war.
„Meinst du vielleicht Geheimratsecken?", fragte Richie und musste sich mit Mühe ein Grinsen verkneifen.
„Ja, sag' ich doch", antwortete Dee ernst.

Das war der Moment in dem sich Richie nicht mehr beherrschen konnte und in ein derart heftiges Gelächter ausbrach, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Eine einzelne lief ihm die Wange herunter, und er wischte sie, immer noch prustend vor Lachen, mit dem Handrücken weg.

„Dee Garcia", sagte er, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, „ich glaube, du hast mir ein bisschen das Herz gestohlen."
„Man kann nicht etwas ein bisschen stehlen", sagte Dee mit erhobenem Zeigefinger.
„Ach nein?", fragte Richie, und wurde plötzlich ernst, „wie ist es denn bei dir? Hat dir denn jemand mehr als ein bisschen das Herz gestohlen?"
Dee sah Richie in die Augen und antworte: „Das sage ich dir, wenn wir mal alleine sind."

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ