Kapitel 37 - Jake, immer noch

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Ist das schön", sagte Dee schlicht und bewunderte diese unglaubliche Konstruktion von Mutter Natur. Jake blieb eine Weile neben ihr stehen, knuffte sie dann in die Seite und rief:
„Los, komm schon, ich will da jetzt runter rutschen."
Er warf sich ohne zu Zögern mitten in den Wasserlauf, stieß sich vorsorglich mit den Händen ab, was er vermutlich gar nicht gebraucht hätte, denn schon wirkte die Kraft der Strömung auf seinen Körper ein und riss ihn mit sich nach unten. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er aus Dees Blickfeld verschwand.
Seinem lauten Lachen nach zu urteilen hatte er die kurze, aber heftige Rutschpartie unverletzt überstanden.

Vorsichtig und nicht ohne Skepsis ließ sich Dee nun auch in die Strömung gleiten, ihre Finger suchten jedoch Halt auf dem glatten Boden des steinernen Flussbettes. Vergeblich, denn im selben Moment spürte sie, wie die Wasserstrudel ihren Körper erfassten, bemerkte eine Zugkraft, der sie sich nicht widersetzen konnte, und überließ sich ihr. Sie schrie vor Vergnügen, während sie die natürliche Rutsche hinunterglitt. Ungebremst schlitterte sie durch die letzte Kurve, bevor sie wie ein Torpedo ins tiefe Wasser katapultiert wurde.
Prustend tauchte sie auf und schwamm auf Jake zu, der sie lächelnd in Empfang nahm.

Am Ende konnten sie gar nicht mehr zählen, wie oft sie diese Rutsche gerutscht waren. Irgendwann beschlossen sie einstimmig, dass sie eine kalte Cola brauchten und schwammen zurück zu ihrem Platz. Die Nachmittagssonne stand schon tief, und es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis die Dämmerung einsetzte.

Dee trocknete sich ab, hüllte sich in ihr Handtuch und tauschte den Bikini gegen trockene Sachen. Jake hatte sich höflich abgewandt und zog sich währenddessen ebenfalls um. Dann breitete er die mitgebrachte Decke aus und reichte Dee das immer noch angenehm kühle Getränk aus seinem Rucksack.

Sie hatte die langen Beine auf der Decke ausgestreckt, stützte sich auf ihre Unterarme und beobachtete einen Condor, der in großer Höhe seine Kreise zog. Jake saß ein wenig versetzt hinter ihr und machte sich einen Spaß daraus, kleine, flache Steine über die Wasseroberfläche zu schmettern. Es gelang ihm nur mäßig, weil seine Blicke immer wieder an Dees zarter Nackenpartie hängen blieben und an den noch feuchten Locken, die kleine Kringel auf ihrer gebräunten Haut bildeten.

Sie riss ihn förmlich aus seinen Beobachtungen, als sie plötzlich sprach.

„Warum kann nicht jeder Tag so sein? Stattdessen werden wir von einem Irren terrorisiert, und wissen nicht, was uns als nächstes Schlimmes passiert! Ich halte das nicht mehr aus!" Sie drehte sich nach Jake um und sah ihn mit einer solchen Verzweiflung an, dass ihm richtig unbehaglich zumute wurde.
„Hey", sagte er leise, „wir stehen das irgendwie durch. Wir sind doch nicht alleine."

Er beugte sich vor und begann, mit den Fingerspitzen ganz sanft über die zarte Haut in ihrem Nacken zu streicheln. Die Berührung verursachte ihr eine Gänsehaut. Er konnte beobachteten, wie sich die winzigen Härchen aufstellten.
„Dee", flüsterte er, umfasste ihre Schulter und zog sie zu sich herüber.

Dee schloss die Augen und überließ sich ganz ihren Empfindungen, realisierte das aufgeregte Pochen ihres Herzens, das heftige Kribbeln in ihrem Bauch, aber auch die Angst, die sie verunsicherte, und ihr die Möglichkeit nahm, sich fallen zu lassen. Jake legte den Arm um ihren Nacken und drückte sie an sich. Sie spürte seinen Atem an ihrer Wange, ganz sacht, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
Langsam drehte sie ihr Gesicht zur Seite, während Jakes Lippen behutsam das Grübchen in ihrer Wange erkundeten. Vorsichtig küsste er dann ihren Mundwinkel und wagte sich schließlich weiter vor zur Mitte ihrer vollen Unterlippe.

Ihr Herz raste. Jake hielt sie fest, und sie erkannte am Beben seines Oberkörpers, dass es ihm nicht anders ging.

Ganz sanft legte er seinen Mund auf ihren, zart, fast wie eine Frage.
Und als sie ihre Lippen öffnete, um Jake zu schmecken, sandten ihre empfindsamen Nerven einen Meteoritenschauer durch ihr Rückenmark.
Mit Jakes Beherrschung war es schlagartig vorbei. Während er eine Hand in ihr langes Haar vergrub, erkundete die andere zärtlich Dees schmale Taille bis hin zu dem Bund ihrer Levisjeans.
Geschickt öffnete er den obersten Knopf und ließ seine feingliedrigen Finger unter den groben Stoff gleiten. Dee keuchte. Ihre Beine zitterten. Und trotzdem griff sie nach seiner Hand und stoppte ihn.

Jake hob den Kopf und sah ihr in die Augen. In seinem Blick spiegelte sich Verlangen und Zerrissenheit. Ein wenig verloren lehnte er seine Stirn an ihre. Dann küsste er sie noch einmal zart auf den Mund und sagte: „Tut mir leid, aber ich kann mich anscheinend nicht gut beherrschen wenn ich in Deiner Nähe bin."
Behutsam legte er seinen Arm um ihre Schultern und zog sie auf sich. In dieser Position blieben sie eine Weile liegen, während Jake gedankenverloren eine Strähne ihrer langen Haare um seine Finger wickelte.
Dee hatte den Kopf auf seine Brust gebettet und lauschte seinem noch immer unregelmäßigen Herzschlag. Warum hatte sie gezögert? Sie wusste es selbst nicht ganz genau. Jake bedeutete Abenteuer, keine Frage. Aber was, wenn sie Abenteuer zur Zeit gar nicht gebrauchen konnte?

Jake und Dee, die einander so verblüffend ähnelten. Beide hatten sie die gleichen vollen Lippen, mit dem unverschämten Schwung in der Mitte der Oberlippe, die gleichen, mandelförmigen Augen, wenn auch Jakes dunkler waren, was ihnen immer einen leicht verträumten Anstrich verlieh. Doch auch, was ihre Interessen betraf, lagen die Beiden oft auf einer Wellenlänge. Man konnte wohl sagen, zwischen Dee und Jake stimmte die Chemie.
Umso erstaunlicher fand Dee es daher, dass gerade jetzt ihre Gedanken bei Richie landeten. Als ob das Schicksal Freude daran hatte, mit ihren Gefühlen ein bisschen Schach zu spielen.

Der Himmel hatte eine satte, tief blaue Farbe angenommen, als sie den Heimweg antraten. Sie fuhren langsam nebeneinander her, Dee hielt sorgsam die Sonnenblume, die er ihr abgeschitten hatte, justiert zwischen Lenkergriff und ihren Fingern. Sie schwiegen, während nur das Zirpen der Grillen und das Knirschen ihrer Reifen auf dem steinigen Weg zu hören war.

Jake betrachtete Dee unverhohlen von der Seite. Als sie seinen Blick bemerkte, lächelte sie zaghaft. Er grinste und zwinkerte ihr zu. Wie immer entspannt und lässig. Keine Spur mehr von der Verletzlichkeit, die vorhin für einen kurzen Moment aufgeblitzt war.

Der Text von John Mayers Free Fallin' kam ihr in den Sinn:
She's a good girl
Crazy bout Elvis
Loves horses
And her boyfriend too

Das bin dann wohl ich, dachte sie mit einer gehörigen Portion Galgenhumor. Und zu Jake passt prima:

I'm a bad boy
Cause I don't even miss her
I'm a bad boy for breakin' her heart
And I'm free, free fallin'

Ich denke in Songs, stellte sie fest und schüttelte unmerklich den Kopf.

Das war so typisch Dee. Wenn ihr nur mal einer gesagt hätte, wie sie auf andere Menschen wirkte und welche Macht sie hätte haben können, würde sie nur ein bisschen an sich selbst glauben.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now