Kapitel 40 - Das Amulett

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Nicht wenige Schüler waren offenbar der Meinung, man könne sich jetzt, in diesen wenigen Tagen vor den Ferien, den Schulbesuch sparen. Jedenfalls lagen den Lehrern  plötzlich erstaunlich viele Krankmeldungen vor.

Anne verbrachte den Rest der Schulzeit ebenso zu Hause, unfreiwillig natürlich. Sie hatte Glück im Unglück gehabt, der besonnene Arzt, zu dem ihre völlig hysterischen Eltern sie noch am Abend des Unfalls schleppten, punktierte den gewaltigen Bluterguss an ihrem Knie - was so wehtat, dass sie sich übergeben musste - und vernähte dann mit acht Stichen die Wunde, die Jordan gar nicht mal schlecht verbunden hatte.

Nachdem Annes Magen und ihr Kreislauf sich einigermaßen stabilisiert hatten, schickte der freundliche Arzt sie nach Hause, nicht ohne ihr noch zwei Wochen absolute Schonung zu verordnen.

Dort konnte sie ihre Eltern zumindest halbwegs davon überzeugen, dass Jordan in keiner Weise Schuld an dem Unfall gehabt hatte. Trotzdem ließ vor allem Annes Dad kein gutes Haar an dem Jungen, suchte weiterhin nach einem Grund, weshalb eine sichere Radfahrerin wie sie sich derart schlimm verletzen konnte.
„Wie kann so etwas bitte passieren?", bohrte er nach, „was sind das für verantwortungslose Kinder, mit denen du unterwegs warst? Ich möchte erstmal nicht, dass du weiterhin Kontakt mit denen hast!"
Anne riss erschrocken die Augen auf. Etwas Schlimmeres hätte ihr Dad nicht von ihr verlangen können. Sie knetete ihre Hände und suchte verzweifelt nach Gegenargumenten.
„Dad, bitte, Jordan hat mich bis nach Hause getragen!"
„Das war wohl das Mindeste", erwiderte ihr Vater kühl.
„Hätte er sich besser mal um ärztliche Hilfe bemüht. Unglaublich dumm war das, nichts anderes! Ich möchte jetzt auch nicht weiter darüber diskutieren. Bitte richte dich einfach danach."

Mit durchgedrücktem Rücken und sehr steifem Gang verließ er den Raum. Anne sah hilflos zu ihrer Mutter.

„Gib ihm ein bisschen Zeit", sagte sie mitfühlend, „er kriegt sich schon wieder ein."

***

Dees Zuhause, später Nachmittag

Nachdem sie einen weiteren, ereignislosen Schultag hinter sich gebracht hatte, setzte Dee endlich ihr Vorhaben in die Tat um, das Medaillon auf dem Dachboden zu suchen. Eine bessere Idee hatte sie ohnehin im Moment nicht und es erschien ihr denkbar, dass ihre Mutter, die niemals ein Erinnerungsstück entsorgt hätte, ein solches Schmuckstück gut verschlossen irgendwo aufbewahren würde.

Man musste ein wenig Gewalt anwenden, um die Holztür, die in die Deckenverkleidung eingelassen war, herunterzuziehen. Dee klappte vorsichtig die Leiter aus und kletterte die knarzenden Tritte hinauf. Mit spitzen Fingern befreite sie die Dachluke von einigen Spinnweben, schob sich durch die schmale Öffnung und setzte sich vorsichtig auf die alten, völlig verstaubten Holzbohlen. Angeekelt fegte sie mit der Hand eine Spinnenleiche beiseite. Die kleinen Härchen auf ihren Unterarmen standen senkrecht. Sie litt an einer ausgewachsenen Spinnenphobie. Das fehlte jetzt gerade noch, dass ihr vielleicht sogar ein lebendes Exemplar begegnete. Oder, noch schlimmer, ihr aus dem alten Dachgebälk auf den Kopf fiel.

Kurz wollte sie dem dringenden Bedürfnis nachgeben, den Dachboden auf der Stelle wieder zu verlassen. Aber sie besann sich sofort. Was würde es ihr bringen? Sie musste mit ihrer Recherche weiter kommen.

Prüfend blickte sie sich um. Unzählige Kartons standen hier oben, einige sorgsam
beschriftet und mit Packband verklebt, andere geöffnet, als hätte sich daran jemand zu schaffen gemacht, vielleicht etwas gesucht, war dann aber gestört worden und hatte vergessen, die Deckel wieder zu schließen.

Die Luft war trocken vom Staub und roch nach altem Holz und Vanille. Dee erhob sich vorsichtig aus ihrer sitzenden Position und bewegte sich langsam auf Händen und Knien in den hinteren Teil des Dachbodens. Bei jeder Bewegung knarzten die alten Bolen. Mäusekot lag willkürlich darauf verteilt.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now