Kapitel 51 - Richie

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Der Anblick der Smugglers Cove Bucht war atemberaubend. Weißer Sandstrand rahmte eine dunkle Felsformation ein, deren Ausläufer wie die Mauern einer Trutzburg bis in die Brandung des Pazifiks ragten.

Man konnte sich wunderbar vorstellen, wie vor Hunderten von Jahren Piraten nach wilden, ausgedehnten Raubzügen ihre Schätze hier versteckten.

Ein hölzerner Pier, der sich weit ins Wasser erstreckte, lud dazu ein, sich auf schmalen Bänken in die Sonne zu setzten oder bis ganz nach vorne zu spazieren. Dort konnte man am Geländer stehen, das Panorama genießen und nach Walen Ausschau halten.

Zu dieser Zeit waren nur noch wenige Touristen unterwegs, vereinzelte hartgesottene Wasserratten, Spaziergänger und Kinder, die mit Plastikeimern nach Muscheln suchten.

Langsam verfärbte sich der strahlend blaue Himmel in ein kräftiges Orange. Durch die hellen Wolken zogen sich bereits  feine rötliche Maserungen. Es wurde merklich kühler.

Dee und Richie schlenderten über die verwitterten Bohlen des Piers, bis sie an der kleinen Aussichtsplattform angekommen waren.

„Wusstest du eigentlich, wieso sich der Himmel orange färbt, wenn die Sonne untergeht?", fragte Richie plötzlich.

Dee legte ihre Unterarme auf das Holzgeländer und wandte sich ihm interessiert zu.

„Nein, nicht so genau."

„Je tiefer die Sonne steht, desto länger ist der Weg, den die Strahlen durch die Atmosphäre zurücklegen müssen. Dadurch wird blaues und grünes Licht stärker gestreut als rotes und gelbes. Es wirkt dann so, als wäre der Himmel rot oder orange."

Richies Wangen hatten während seiner Erklärung eine zartrosa Färbung angenommen.

Dee grinste und erwiderte:

„Und um jetzt damit zu flexen hast du mich hierher geschafft?"

Er schüttelte den Kopf und wurde unerwartet ernst.

„Nein, deshalb bestimmt nicht."

Dee hatte das Bedürfnis, die veränderte Stimmung zwischen ihnen zu relativieren, weshalb sie ihre Kopfhörer aus den Tiefen ihrer Hosentasche zauberte. Sie hielt Richie einen davon entgegen und platzierte sich den anderen in ihre Ohrmuschel.

„Hör mal, passt das nicht absolut zu diesem Moment?"

Mit einem fragenden Ausdruck steckte sich Richie das andere Ende der EarPods ins Ohr und wartete auf die ersten  Klänge der Melodie.

🎼🎶

It's out of our control
But if shit hits the fan we're not alone

'Cause you've got me and you know
And I've got you and I know

If the tide takes California
I'm so glad I got to hold ya

and if the sky falls from heaven above
Oh I know I had the best time fallin' into love
🎼🎶

Ohne zu überlegen nahm er Dees Hand. Sein Blick suchte ihren und sie konnte darin lesen wie in einem Buch. Richies warme braune Augen spiegelten die poetischen Worte des Songtextes.

Wie lange dieser magische Moment dauerte, konnte keiner von ihnen später noch sagen. Oft glaubt man, diese besonderen Augenblicke halten ewig an, doch darin täuscht man sich.

Jedenfalls unterbrachen die aufgeregten Rufe eines Kindes rüde die romantische Situation.

„Da vorne Grandpa! Siehst Du denn nichts?"

Dees Blicke richteten sich automatisch auf das offene Meer, und auch Richie hatte sich über das Geländer nach vorne gebeugt.

„Da!", rief er jetzt und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den tiefblauen Ozean.

Und nun bemerkte auch Dee, was für die Aufregung des Kindes gesorgt hatte.

Weit draußen, dort wo die untergehende Sonne mit den Wellen des Pazifiks verschmolz, durchpflügten zwei Delphine mit gewaltiger Sprungkraft die Wasseroberfläche.

Dee beobachtete gebannt das ausgelassene Spiel der eleganten Tiere,  und auch Richie stand bewegungslos da, die Augen auf die wunderschöne Szene gerichtet.

Es kommt in Kalifornien nicht selten vor, dass sich Delphine oder auch Wale vor der Küste zeigen. Und doch konnte man diesen Anblick vor der Kulisse des wunderschönen Sonnenuntergangs mit Recht als magisch bezeichnen. Und ohne es explizit auszusprechen, sahen Dee und Richie darin ein gutes Omen.

Vielleicht veranlasste diese besondere Stimmung Richie dazu, über seinen Schatten zu springen, denn er legte vorsichtig den Arm um Dees Schultern und fragte leise:

„Darf ich Dich küssen?"

„Kann es sein, dass Du einfach zu viel fragst", erwiderte sie leise.

Richie suchte in ihren Augen nach Einverständnis. Ihre Pupillen waren geweitet, füllten das Grün ihrer Iris fast vollständig aus.

Zärtlich hob er ihr Kinn an, streichelte mit dem Daumen über den markanten Kieferknochen, der ihrem feinen, herzförmigen Gesicht etwas Entschlossenes gab.

Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er zog sie zu sich, seine Lippen berührten ihren Mund, sanft erst, dann immer fordernder.

Dee schlang ihre Arme um seinen Hals, während Richie seine Hände in ihrem langen Haar vergrub. Und als sie seinen Kuss erwiderte, fühlte sich das an, als würde endlich das fehlende Puzzleteil zusammengesetzt. Als wäre sie vorher zerbrochen gewesen und jetzt wieder ganz.

Eine Weile taten sie nichts anderes, als die Welt um sich herum auszublenden. Vollkommen aufeinander fokussiert, genossen sie das aufregende Gefühl ihrer neu entdeckten Nähe. Doch als die Kühle des Abends schließlich kompromisslos die letzte Sonnenwärme verschluckte, entschlossen sie sich, den Heimweg anzutreten.

Ein bisschen verlegen schlenderten sie über den alten Pier zurück in Richtung der Dünen.

Für einen kurzen Moment stahl sich noch einmal der Gedanke an Jake in Dees Empfindungen und eine unbestimmte Wehmut überkam sie. Doch der Augenblick dauerte nicht an.

Richie war präsenter, er ließ sich einfach nicht vertreiben. Vielleicht lag es daran, dass er ihr etwas geben konnte, was Jake nicht geschafft hatte:

Stabilität.

Richie war ihr Safe Haven, er signalisierte Heimat, das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Jake erinnerte sie eher an ein Schiff, das hinaus aufs offene Meer trieb, den Wind in den Segeln und immer auf der Suche.

Als würde Richie Dees innere Zerrissenheit spüren, nahm er ihre Hand. Augenblicklich verschwanden Zweifel und Unsicherheit und sie erwiderte den sanften Druck seiner Finger.

Dieses Kapitel ist für Dich, meine Süße, weil ich finde, dass Du genau so bist ❤️

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now