Kapitel 47 - Träume scheren sich nicht um Rituale

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Als Dee zu Hause eintraf, brannte ihre Kehle noch immer. Der Geschmack von Rauch hatte sich in ihre Schleimhäute eingegraben. Ihre Haut fühlte sich an, als wäre sie beim Sonnenbaden eingeschlafen und erst nach mehreren Stunden erwacht.

Müde hängte sie ihren Schlüssel an das kleine Schlüsselbrett neben der Tür und rief der Form halber nach ihrem Vater.

„Hier", tönte es aus dem Wohnzimmer.

Dee konnte ein Frösteln nicht unterdrücken, als sie Sekunden später den Raum betrat. War es kühl, oder jagte der Anblick ihres traurig aussehenden Vaters ihr einen Schauer über den Rücken?

„Möchtest du dir mit mir die Show ansehen", fragte er und deutete mit der Fernbedienung auf den Bildschirm.

Dark Tourist lief, eine Serie, die sich gerade besonders hoher Einschaltquoten erfreute, und in der ungewöhnliche und auch recht makabre Locations vorgestellt wurden. Offenbar übten diese dunklen Orte auf die Zuschauer einen großen Reiz aus.

„Ich bin müde, Dad, ich glaube, irgendwas habe ich mir eingefangen. Ich lege mich ins Bett."

Besorgt drehte sich ihr Vater in seinem Sessel nach ihr um.

„Kann ich dir was bringen? Brauchst du eine Aspirin?", fragte er.

Dee schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, ich brauche nur eine Runde Schlaf."

Augenscheinlich gab er sich damit zufrieden und konzentrierte sich wieder auf seine Sendung. Gähnend schlurfte Dee die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, befreite ihre Füße von den Chucks, tauschte die Jeans gegen eine kurze Jogginghose und machte es sich auf ihrem breiten Bett bequem.

Die Decke bis zum Kinn hochgezogen und die Nachttischlampe gedimmt, ließ sie den merkwürdigen Vorfall - und gefährlich war er auch, um ehrlich zu sein - Revue passieren.

Je mehr sie allerdings über die Charakterisierung von Jake und Richie nachdachte, desto sicherer war sie, dass die Erscheinung Carlas nur das Resultat ihrer Fantasie gewesen sein musste. Denn das waren ja im Grunde exakt ihre eigenen Überlegungen, die diese seltsame Carla aus den Flammen ihr mitgeteilt hatte.

Bones Vorschlag, den Detective aufzusuchen, ergab jedoch immer mehr Sinn. Ob Bones nun tatsächlich diesbezüglich eine Vision gehabt hatte oder nicht, war dabei eigentlich völlig unwichtig.

Und was war mit der Schilderung, sie habe alle an den Händen festgehalten? Eine Aussage, die sie nicht hatte hören wollen. Warum sollte ausgerechnet sie die Schlüsselfigur in diesem Drama sein? Sie hatte diese Bürde abgeben oder wenigstens mit ihren Freunden teilen wollen. Lag die Verantwortung wirklich nur bei ihr allein?

Dees Kehle brannte noch immer, das Schlucken fühlte sich an, als hätten sich Pfefferkörner in ihrem Rachen eingenistet. Sie griff nach der kleinen Plastikflasche Zephyrrhills, drehte den Verschluss auf und leerte die Hälfte des stillen Mineralwassers in drei tiefen Zügen. Zumindest linderte die Kühle des Getränks das unangenehme Kratzen im Hals.

Völlig erschöpft ließ sie sich zurück in die Kissen sinken. Es dauerte keine zwei Minuten bis die bleierne Müdigkeit sie übermannte und ihr den so dringend benötigten Schlaf schenkte.

Erholsam war er jedoch nicht.

Sie hörte das Heulen der Raketen und vernahm den darauffolgenden Einschlag als stünde sie direkt daneben. Kälte umgab sie, das Einatmen der eisigen Luft schmerzte in ihren Lungen.

Aber war das nicht Rauch ?, fragte ihr Traum-Ich.

Ohne es zu bemerken, rollte sie sich unter ihrer warmen Decke wie ein Embryo zusammen. Ihre Pupillen bewegten sich schnell unter den fest geschlossenen Lidern, und sie knirschte mit den Zähnen.

Die Szene wechselte, das Kreischen der Raketen verstummte, die Kälte blieb jedoch.

Sie erkannte einen düsteren Raum. Überall entdeckte sie Löcher in den Wänden des alten Mauerwerks, durch die vereinzelte Sonnenstrahlen helle Lichtschimmer auf den unebenen Boden warfen.

In der Mitte des Zimmers saß ein Soldat. Paul Jungblut, ihr Urgroßvater. Er hockte zusammengesunken auf einer schäbigen Kiste, die Arme auf einen klapprigen Tisch gelegt. Es sah so als, als würde er schreiben. Im Traum trat Dee näher. Sie blickte ihm über seine erbärmlich knochigen Schultern.

Was sie entdeckte, überraschte sie. Und dennoch kam ihr die Szene seltsam vertraut vor. Mit zitternden Fingern verfasste Paul Jungblut einen Brief. Kunstvoll geschwungene Lettern, eng aneinandergereiht, zierten ein schmutziges Blatt Papier.

Es gelang ihr nicht, die Worte zu entziffern. Aber sie hatte diese Zeichen schon einmal gesehen.

Auf dem Dachboden. Die Briefe vom Dachboden!

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now