Kapitel 65 - Show Down in Los Padres, 1

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Je näher sie dem Rastplatz kamen, desto stiller wurden sie. Schon während der letzten zwei Kilometer auf dem breiten, übersichtlichen Feldweg hatten sie nur das Nötigste miteinander gesprochen. Doch nun, als sie auf den schmalen Pfad abbogen, der direkt zu der Lichtung führte, waren sie gänzlich verstummt.

Dee hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl, weil sie Bones zurücklassen mussten. Ein fehlendes Glied in der ohnehin fragilen Kette - so jedenfalls empfand sie es. Aber auch Richie und Jake sprachen kaum und starrten stattdessen angestrengt auf den Weg der vor ihnen lag. Das Gezwitscher der Vögel und das leise Rauschen des nahen Wasserfalls wirkten wie unterschwelliges,  höhnisches Gelächter.

In der Nähe knackte ein Ast! Es klang ohrenbetäubend. Dees Nackenhaare stellten sich auf, und als sie sich nach ihren Freunden umsah, bemerkte sie die Furcht in ihren Gesichtern. Jakes Blick schweifte unruhig hin und her und Richie knabberte angespannt an seiner Unterlippe.

Dee stoppte die Fahrt abrupt, indem sie ihre Fußspitze über den mit kleinen Steinen versetzten Waldboden schleifen ließ. Suchend blickte sie sich auf dem schmalen Waldweg um, legte dann den Kopf schief und lauschte. Doch nach wie vor waren nur die leisen Vogelstimmen und das Rauschen des Windes in den Blättern zu vernehmen.

„Warum hältst du an?", fragte Jake, der zu ihr aufgeschlossen war. Auch Richie stoppte direkt hinter beiden. „Was ist los?", flüsterte er und wunderte sich im gleichen Atemzug darüber.

„Keine Ahnung, ich weiß nicht. Ich dachte, ich hätte was gehört."

In diesem Moment erfüllte ein vibrierendes Surren die Umgebung und Dee verspürte einen kurzen, aber heftigen Luftstoß, der ihr auf beängstigende Weise das Haar streifte. Nur Millisekunden später ertönte das Geräusch von berstendem Holz.

„Was zur Hölle...", keuchte Richie.

Ein leises Kichern war zu hören, doch im Zusammenspiel der anderen Geräusche konnte man nicht ausmachen, aus welcher Richtung es kam.

Dee zögerte, doch dann lehnte sie ihr Rad an den Stamm einer jungen Birke und stapfte entschlossen den schmalen Pfad hinauf.

„Bleib hier, Dee, das ist eine verdammte Scheißidee, noch weiter zu gehen. Du siehst doch, dass hier irgendwas absolut nicht stimmt", rief Jake eindringlich.

Er war nun ebenfalls abgestiegen und hatte sein Bike achtlos auf den Boden fallen lassen.

„Glaubt mir doch einfach, Christina ist in diesem Schacht. Ich bin mir wirklich ziemlich sicher. Und wenn ich ihr nicht helfe, dann stirbt sie da drin", erwiderte Dee aufgebracht.

„Du bist aber nicht Mutter Theresa, und auch nicht für alles und jeden verantwortlich", schimpfte Richie jetzt auch noch, so dass sie schließlich stehen blieb und hilflos die Hände hob.

„Ich habe es geträumt", erwiderte sie, „und ich habe das Medaillon. Ich kann jetzt nicht einfach umdrehen und so tun, als ob mich das alles nichts angehen würde! Und by the way, wer bitte ist denn Mutter Theresa?"

Mit flackerndem Blick sah sie ihre Freunde an. Ihr Gesichtsausdruck wirkte so entschlossen und gleichzeitig so hilflos, dass die Jungs es nicht wagten, ihr weiter zu widersprechen.

Einen Moment stand Dee da, rieb sich mit zitternden Fingern den Nasenrücken, und setzte dann ihren Weg fort. Richie seufzte, stieg ab, ließ sein Rad ebenfalls achtlos gegen einen Baum fallen und folgte ihr. Die Angst, dass ihr etwas zustieß war größer als die Angst um sein eigenes Wohlergehen. Auch Jake konnte nicht anders, als Dee zu begleiten, auch wenn es ihm absolut widerstrebte, sich einer solchen Gefahr auszusetzen, nur, damit sie vielleicht jemand anderen retten konnten. Betonung lag auf vielleicht.

Die Atmosphäre schien erfüllt von einer fiebrigen Energie, als sei die Luft statisch aufgeladen, so wie es bei einem bevorstehenden Gewitter der Fall ist. Doch der Himmel strahlte in seinem klaren Sommerblau und kein Wölkchen verunzierte den satten Farbton.

Nach etwa fünfzig Metern erreichten sie den Platz, auf dem sie noch vor kurzem die unselige Party gefeiert hatten. Während sie sich dem Schacht näherten, löste Richie das Bergsteigerseil, das er sich bei Bones, aus Mangel einer anderen Aufbewahrungsmöglichkeit, einfach einige Male um die Hüften geschlungen hatte. Die glatte, feste Struktur gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und er rieb mit dem Daumen darüber, als wolle er sich selbst beruhigen.

Der Bereich um den schmalen, steinernen Eingang sah anders aus als am Vorabend. Längere Halme waren abgeknickt, das Gras davor plattgetreten. Ein verrostetes Metallschild, dessen ehemals kräftige rote Farbe verblichen und abgeblättert war, lag, noch immer, zum Großteil unter trockenem Gestrüpp verborgen, auf dem sandigen Boden. Dee konnte nur die ersten Buchstaben erkennen:

No Tre...

Sie zögerte, wandte sich nach Richie und Jake um, die Augen weit aufgerissen. Ihr Herz jagte.

„Sollten wir nicht mitgehen?", fragte Jake leise.

„Liebend gern, aber wenn ich hier oben allein zwei oder sogar gar drei Leute heraufziehen müsste, das würde ich nicht schaffen. Ich würde selbst gern mit rein,  dann könntest du Wache halten, aber ganz ehrlich, no front, du schaffst es noch weniger uns alle rauszuziehen", erwiderte Richie mit einem etwas abschätzenden Blick auf Jakes Statur. Dann wandte er sich an Dee.

„Hör zu, binde dir das Seil ums Handgelenk. Wenn dir komisch wird oder sonst irgendwas passiert, ziehst du fest dran."

Dee nickte und tat, was Richie ihr aufgetragen hatte.

„Mit Sicherheit hast du in so einem alten Schacht ein Problem mit dem Sauerstoff. Deshalb haben Bergleute früher immer einen Vogel im Käfig dabei gehabt. Als Warnsignal. Wenn der von der Stange fiel, war die Luft sauerstoffarm."

Er fuhr sich mit zitternden Fingern durch seine dunklen Haare. Dee hatte ihn noch nie so ängstlich gesehen.

„Vielleicht kann sie ein Feuerzeug mitnehmen", schlug Jake vor, „es ist doch so, dass es ausgeht, wenn kein Sauerstoff vorhanden ist, oder?"

Jetzt schüttelte Richie den Kopf.

„Das stimmt zwar, aber es kann sein, dass sich in solchen Schächten Gase bilden, Methangas zum Beispiel. Dann fliegt dir da drin alles um die Ohren."

„Ich gehe jetzt, ich habe ja das Seil, damit fühle ich mich relativ geschützt. Und ich habe das Medaillon", sagte Dee fest, aber das nervöse Zucken ihres rechten Lides strafte die Selbstsicherheit Lügen.

Jake rieb sich mit beiden Handballen die Augen.

„Ach komm, das ist doch nicht dein Ernst! Glaubst du wirklich, das Medaillon kann dich in so'nem Scheißschacht vorm Ersticken retten?"

Hilflos hob Dee ihre Schultern. Dann sagte sie leise:

„Als ob ich eine Wahl hätte. Aber ich vertraue auf euch. Wenn ihr beide hier oben seid, fühle ich mich sicher."

Ohne noch länger zu zögern, kniete sie sich auf den trockenen Waldboden, drehte sich auf allen Vieren so, dass sie sich mit den Füßen voran durch Spalt schieben konnte, der in etwa die Breite von einem halben Meter haben mochte.

Sie schloss die Augen und ließ den Atem kontrolliert durch ihre gespitzten Lippen entweichen. Dann umfasste sie kurz das Medaillon, das um ihren Hals hing.

„Ok. Ich gehe jetzt."

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now