Kapitel 32 - Wege des Schicksals

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Die bittere Kälte des russischen Winters raubte den deutschen Soldaten jegliche Willenskraft. Niemand hatte noch Hoffnung, den Krieg zu gewinnen. Das Einzige, was die Männer am Leben hielt, war die Vorstellung, irgendwann noch einmal ihre Heimat zu sehen. Der Gedanke an die Menschen die sie liebten gab ihnen die Kraft, die eisigen Tage und Nächte durchzustehen. Doch die Kälte ließ den Boden zu Stein gefrieren, es war unmöglich, einen Graben auszuheben, der ihnen Schutz vor den Gewehrkugeln der Russischen Armee bot.

Und trotzdem krepierte der Großteil der zum Ausharren gezwungenen Männer gar nicht durch das Artilleriefeuer. Es war die Kälte, die sie dahinraffte. Der unbarmherzige eisige Winter Russlands erledigte mehr deutsche Soldaten als die russischen Kugeln oder die von allen gefürchteten Katjuscha-Raketenwerfer.

Geblendet von seinem unvorstellbaren Größenwahn, war Hitler bei der Planung des Russlandkrieges davon ausgegangen, dass Moskau schnell erobert sein würde. Nur hatte er nicht mit den Naturgewalten gerechnet, die waren in seiner Vision vom Endsieg gar nicht vorgekommen.

Der Ende Oktober einsetzende Regen verwandelte den Boden in ein Moor aus Schlamm, was dazu führte, dass lebensnotwendige warme Kleidung, Essen und Arzneimittel auf den viel zu langen Lieferwegen stecken blieben. Ohne ausreichende Schutzkleidung mussten die Männer dem Winter trotzen. Ein Winter mit unvorstellbaren Temperaturen von  -50 Grad.

***

Ethan zog sich langsam aber unaufhaltsam aus seinem sozialen Umfeld zurück. Die letzten Male als er sich mit seinen Freunden getroffen hatte, musste er mehr und mehr feststellen, wie fade er sie eigentlich alle fand. Er störte sich einerseits daran, dass ihre Interessen so unspektakulär waren, andererseits kränkte es ihn, dass sie ihm nicht ständig ihre volle Aufmerksamkeit schenkten. Selbst über Christina ärgerte er sich, obwohl er sich eigentlich mit ihr meist auf einer Wellenlänge wähnte. Aber ihre Problemchenwälzerei und ihre peinlichen Anmach-Attacken, die sie seit kurzem bei Jake startete, kotzten ihn regelrecht an. Ethan fühlte sich zu Höherem berufen. Aber um sich so darzustellen wie er es sich wünschte fehlte ihm die Bühne. Um seine seelische Taubheit zu durchbrechen, beschäftigte er sich mehr und mehr mit bizarren Dingen. Sein Lieblingsspielzeug war neuerdings die Armbrust seines Vaters. Früher war sein Vater recht erfolgreich im Umgang mit der Armbrust gewesen, hatte sogar mehrere Wettkämpfe bestritten und auch gewonnen. Seit einigen Jahren schaffte er es zeitlich aber nicht mehr, sich diesem Hobby zu widmen.  Die Armbrust stand nun in einer Vitrine im Keller und war in Vergessenheit geraten. Abgeschlossen war diese Vitrine zur Freude Ethans nicht.

***

Gregory stand am Fenster und blickte Chris nach, der mit schnellen Schritten zu seinem Auto hastete, wobei seine ganze Körperhaltung Zorn ausstrahlte. Selbst seine Rückansicht wirkte auf Gregory wie eine einzige Anklage. Draußen regnete es. Der Regen tropfte monoton gegen die Fensterscheibe, fiel in langen grauen Wasserfäden auf den Asphalt und ließ Chris auf seinem kurzen Weg zum Auto vollkommen durchweicht aussehen.
Gregory war versucht, das Fenster aufzureißen und ihm hinterher zu rufen, aber sein eigener Zorn hielt ihn zurück. Warum zum Teufel war Chris nur so unglaublich insistierend? Warum brachte er so wenig Verständnis dafür auf, dass Gregory sich nicht von heute auf morgen outen wollte?

Alles hatte wirklich gut angefangen. Es war ein wunderschöner, unbeschwerter Abend gewesen, den sie in perfektem Ambiente, bei einem unglaublich guten Essen - Chris hatte gekocht - verbrachten, bis die Stimmung kippte und sich ein scheinbar nicht zu lösender Konflikt entwickelte.

Und dieses Mal war es gar nicht Chris gewesen, der mit dem Thema angefangen hatte, sondern er selbst. Er hatte sich gerade so wohl gefühlt in Gegenwart seines neuen Freundes, dass er sich plötzlich fast alles mit ihm vorstellen konnte. Nur vielleicht nicht sofort, nicht gleich heute. Chris war auf seine Bemerkung
„Ich stelle mir gerade einen romantischen Urlaub auf Martha's Vineyard mit dir vor" angesprungen wie ein Terrier auf die Hosenbeine des Briefträgers.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now